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»Ich sehe mich selbst nur als Lautsprecher einer Kollektivität«

Der italienische Comicautor Zerocalcare spricht über die politische Bedeutung regionaler Akzente und seine Rolle als »organischer Intellektueller«

  • Interview: Samuel Logan
  • Lesedauer: 7 Min.
Comicautor Zerocalcare – »Ich sehe mich selbst nur als Lautsprecher einer Kollektivität«

Welchen Eindruck macht Berlin auf Sie? Finden Sie, dass sich die Stadt mit Rom vergleichen lässt?

Mein erster Eindruck ist, dass hier alles besser funktioniert und die Stadt weniger vernachlässigt ist als Rom. Ich habe aber auch hauptsächlich Kreuzberg und die touristischen Gegenden gesehen. Um zu sehen, ob die Städte einander ähnlich sind, müsste ich die Randbezirke kennenlernen.

Die Leute hier haben jedenfalls den Ruf, sich sehr direkt oder sogar grob auszudrücken, was ja durchaus auch für Rom typisch ist. Ihr Stadtteil Rebibbia spielt für Sie und Ihr Werk eine große Rolle, und Sie sprechen mit einem römischen Akzent. In der italienischen Linken scheint es keinen Gegensatz zu geben zwischen einer sehr festen Verankerung vor Ort und radikalen politischen Überzeugungen. Woher kommt das?

Also, ich habe Römisch eigentlich erst gelernt, als ich politisch aktiv wurde. So sprach man auf den politischen Versammlungen. Vor allem diejenigen, die älter waren als ich, die aus der Arbeiterautonomie kamen. Weil meine Mutter Französin ist, habe ich zuhause eher Standarditalienisch gesprochen. Paradoxerweise spreche ich also Römisch eher in der Öffentlichkeit, vor Publikum, im politischen Kontext, und weniger privat.

Interview
Niccolò Caranti

Zerocalcare, bürgerlich Michele Rech, wurde 1983 in Arezzo, Italien, geboren. Zuerst wurde er als Blogger und seit 2011 durch seine autobiografischen Alltagsgeschichten bekannt.

In Deutschland ist die radikale Linke ziemlich akademisch geprägt, und es ist eher typisch, dass Leute sich ihre regionalen Akzente abgewöhnen, wenn sie Politik machen.

Die radikale Linke war in Italien nie so akademisch geprägt. Aber all das verändert sich unter dem Einfluss von Social Media. Politisierung findet nicht mehr vorrangig vor Ort, in den Stadtvierteln und im direkten Austausch mit älteren Genoss*innen statt, sondern im Internet, unter dem Einfluss von politischen Influencern. Dadurch wird einerseits die Sprache standardisiert, und andererseits verliert sich der Kontakt mit dem eigenen Territorium.

Darüber hinaus habe ich den Eindruck, dass Orte in der italienischen Linken eine wichtige Rolle spielen: Es geht immer um einen Ort, der verteidigt werden muss, sei es jetzt das örtliche autonome Kulturzentrum, sei es das Susatal, durch das eine Hochgeschwindigkeitstrasse gebaut werden soll, oder sei es Rojava. Wieso ist die italienische Linke so »geographisch« orientiert, und weniger wirtschaftlich?

Die Gründe dafür liegen in der Geschichte der italienischen Linken. In den 80er Jahren, nach dem Scheitern des bewaffneten Kampfes, sind all diese politisch Aktiven in die Stadtviertel zurückgekehrt. Auch aufgrund der starken staatlichen Repression hat man sich sehr auf eine lokale Perspektive beschränkt: »Wenn wir den Staat nicht mit der Waffe in der Hand bekämpfen können, dann besetzen wir wenigstens vor Ort ein Haus, und machen daraus einen Ort, der nach unseren Vorstellungen funktioniert. Wenn wir nicht das Land als ganzes verändern können, dann versuchen wir, wenigstens dieses Stadtviertel zu verändern. All diese Einzelprojekte können sich auch vereinigen und gegenseitig unterstützen, aber Voraussetzung dafür ist eine starke Verankerung vor Ort.« Und das ist die Einstellung, mit der auch meine Generation aufgewachsen ist – vielleicht als letzte. Aber leider scheint das etwas zu sein, das die neue politisch aktive Generation verloren hat. Ich merke zum Beispiel, dass, anders als meine Generation, die jungen Aktivisten die physischen Orte der Linken vernachlässigen. Wir haben Häuser besetzt und engagieren uns in autonomen Zentren, weil wir einen Ort brauchen, an dem wir uns organisieren, Transparente malen, Feste feiern und so weiter. Die Bewegungen, die aus sehr jungen Leuten bestehen, haben danach aber kein Bedürfnis, was für mich schwer zu verstehen ist: Wenn du keinen konkreten Ort hast, an dem dich die »normalen« Leute finden können, verlierst du den Kontakt zu ihnen.

Aber verliert man nicht auch die Perspektive auf weitere politische Ziele, auf den Klassenkampf, wenn man sich so auf die Verteidigung alternativer Orte konzentriert?

Diese Beschränkung auf lokale Projekte ist nicht so sehr ein politisches Ziel an sich, sondern einfach eine Folge der Schwäche der Linken. Als wir stärker waren, konnten wir auch weitergehende Ziele verfolgen und glaubhaft dafür streiten.

Die Verteidigung bestimmter Orte spielt ja auch auf internationaler Ebene für die Linke eine Rolle. Aber gibt es auch Grenzen »antikolonialer« Solidarität?

Hierüber kann ich nur für mich selbst sprechen, und nicht für die Linke als Ganze. Der Kontakt mit dem kurdischen Befreiungskampf hat mich stark geprägt. Es gibt zahllose Ungerechtigkeiten in der Welt, und zahllose Projekte der Befreiung, mit denen man auf internationaler Ebene solidarisch sein kann. Aber um wirklich zusammenzuarbeiten, braucht es meiner Meinung nach eine gemeinsame Sprache, einen gemeinsamen politischen Horizont. Das bedeutet nicht notwendigerweise eine genaue Übereinstimmung in allen politischen Fragen, aber doch eine gemeinsame Richtung, in die man gehen will. Und so etwas habe ich jahrelang nirgends gefunden, bis ich mit der kurdischen Sache in Kontakt kam. Rojava scheint mir ein politisches Projekt, an dem wir mitwirken können, und von dem wir politisch viel lernen können. Deswegen engagiere ich mich dafür.

Comicautor Zerocalcare – »Ich sehe mich selbst nur als Lautsprecher einer Kollektivität«

In diesem Interview haben wir hauptsächlich über Politik gesprochen, und mir scheint, als seien Sie in Italien der »politische Intellektuelle« geworden, der in Interviews zu allen möglichen politischen Themen befragt wird. Wie geht es Ihnen in dieser Rolle?

Ich sehe mich selbst nur als Lautsprecher einer Kollektivität. Ich möchte nur über Anliegen sprechen, die ich wirklich verfolge, und an denen ich mit vielen anderen mitwirke. Das heißt, ich gehe einmal in der Woche zum Plenum, ich setze mich mit Leuten auseinander, die mehr wissen als ich, und kann dann für die kollektiv erarbeiteten Positionen vor einem weiten Publikum eintreten. Wenn ich aber zu Dingen befragt werde, mit denen ich mich nicht so genau auseinandersetze, ist mir das unangenehm. Meinungen, die ich einfach so, spontan bilde, sind ja nicht für die Allgemeinheit interessant, und können auch von Vorurteilen bestimmt sein. Das sind dann Sachen, die ich vielleicht in der Bar einem Freund sage, aber für ein Millionenpublikum sind sie wertlos. Was ich öffentlich sage, muss eine kollektiv erarbeitete Position sein. Und es ist schwer, das manchen Journalisten begreiflich zu machen, aber auch manchen Aktivisten. Ein einfaches Beispiel: der Klimawandel. Ich glaube, dass der Klimawandel existiert, dass der Kampf dagegen sehr wichtig ist und ich bin sehr froh, dass es viele junge Leute gibt, die diesen Kampf führen. Ich gehe auch gern zu einer Demo gegen den Klimawandel. Aber weil dieses Thema während meiner Politisierung in den 90er und nuller Jahren keine Rolle gespielt hat, habe ich diesen Background nicht. Mit 40 Jahren und meiner Arbeitsbelastung kann ich mich nicht regelmäßig auch in diesen Kampf einbringen und zu weiteren Plena gehen. Deswegen kann ich meiner Meinung nach auch nicht für dieses Anliegen sprechen. Ich weiß einfach zu wenig darüber, und wenn ich mit einem feindseligen Journalisten spreche und meine mangelnde Sachkenntnis offenbare, mache nicht nur ich »brutta figura«, sondern die ganze Bewegung.

Auf Instagram kündigen Sie stundenlange Signiersitzungen an, bei denen Sie auch personalisierte Zeichnungen erstellen. Das wirkt wie Fließbandarbeit und scheint Sie auch ziemlich zu belasten. Was sagen Sie als arbeitender Mensch zu Ihren Arbeitsbedingungen?

Als Arbeiter bin ich sehr privilegiert, weil meine Arbeit viel besser bezahlt wird als die der Menschen in meinem Umfeld. Und die Arbeit ist auch weniger zermürbend als auf einer Baustelle oder in der Fabrik. Ausgebeutet werde ich in dem Sinne, dass der Wert, den meine Arbeit generiert, viel größer ist als die Bezahlung, die ich dafür bekomme. Das ist eben der Kapitalismus, aber in diesem System bin ich ziemlich privilegiert. Aus persönlichen Schuldgefühlen setze ich mich aber Qualen aus, die im Arbeitskontext niemand von mir verlangt. Aus psychologischen Gründen will ich mir nur keine Vorhaltungen machen lassen à la: »Ich bin für diese Lesung aus einer anderen Stadt angereist, aber du hast nur eine Stunde lang signiert. Jetzt wo du viel Geld verdienst, ist dir dein Publikum egal.«

Sie müssten streiken.

Dieser Streik würde sich aber nicht gegen meine Chefs richten. Die sind von dem ewigen Signieren eher genervt, weil sich dadurch die Veranstaltungen in die Länge ziehen. Ich würde also meine Leser bestreiken, und das kann ich nicht – leider.

Von Zerocalcare erschien zuletzt auf Deutsch die Comicreportage »No sleep till Shingal« über die Lebensbedingungen der ezidischen Bevölkerung und ihr Bestreben, nach dem versuchten Völkermord durch den IS den demokratischen Föderalismus nach kurdischem Vorbild aufzubauen.
Zerocalcare: »No sleep till Shingal«. Avant-Verlag, 200 S, Hardcover, 28 €.

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