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Kuba: Der große Exodus
Die schlechte Wirtschaftslage und die US-Politik heizen die Auswanderung aus Kuba an
Ende November kündigte das US-Außenministerium Visabeschränkungen für Eigentümer, Führungskräfte und Mitarbeiter von Unternehmen an, die »Charterflüge nach Nicaragua anbieten, die in erster Linie dazu dienen, irreguläre Migranten in die Vereinigten Staaten zu bringen«. Die neue Visapolitik sei Teil eines Maßnahmenpakets, das darauf abziele, Menschen zu schützen und den Missbrauch und Profit durch irreguläre Migration zu bekämpfen, heißt es dazu aus Washington. Vor allem Menschen aus Kuba und Haiti würden Charterflüge nach Nicaragua nutzen, um danach auf dem Landweg zur US-mexikanischen Grenze zu gelangen.
Die Ankündigung erfolgte nur wenige Tage nach den US-kubanischen Migrationsgesprächen in Havanna ohne nennenswerte Fortschritte. Nach Ansicht des stellvertretenden kubanischen Außenministers Carlos Fernández De Cossío besteht in Washington »kein politischer Wille«, die Migrationspolitik in Bezug auf Kuba zu ändern; »Priorität« bleibe »die Destabilisierung Kubas«. Die Verschärfung der US-Blockadepolitik und die willkürliche Aufnahme Kubas in die US-Terrorliste hätten direkte negative Auswirkungen auf die Lebensbedingungen auf der Insel, erklärte Di Cossio gegenüber der Presse in Havanna. Hinzu käme die bestehende Vorzugsbehandlung für Kubaner. Nach dem 1966 verabschiedeten Cuban Adjustment Act gewährt Washington allen kubanischen »Flüchtlingen« umstandslos Asyl und eine schnelle Einbürgerung. »All dies sind Anreize für irreguläre und ungeordnete Migration. Das erklärt, warum wir solche Zahlen für die Einwanderung von Kubanern in die USA haben.«
Tatsächlich erlebt Kuba einen nie dagewesenen Exodus. Geschätzt eine halbe Million Menschen haben die Insel in den vergangenen beiden Jahren verlassen – bei einer Gesamtbevölkerung von zehn bis elf Millionen. Hauptgrund ist die desolate wirtschaftliche Lage. Die Corona-Pandemie hat die bereits zuvor akute Wirtschafts- und Versorgungskrise auf der Insel verschärft. Durch den Einbruch des Tourismus und immer strengere US-Sanktionen verlor Kuba einen Großteil seiner Deviseneinnahmen. Die Abwertung des kubanischen Pesos im Zuge der Währungsreform Anfang 2021 befeuerte die Inflation; wegen Treibstoffmangels und des bedauernswerten Zustands vieler Kraftwerke gehören stundenlange Stromausfälle wieder zum Alltag vieler Kubaner.
Hochrangige Regierungsvertreter haben zuletzt in einer Reihe von Fernsehauftritten eine düstere Momentaufnahme der sich vertiefenden Krise gezeichnet. Demnach sind die Lebensmittelproduktion, die Versorgung mit Arzneimitteln und das Transportwesen seit 2018 um mindestens 50 Prozent zurückgegangen; die Industrie sei gerade einmal zu 35 Prozent ausgelastet.
Ein wichtiger Teil der Bevölkerung sehe angesichts der wirtschaftlichen Situation »kein Licht am Ende des Tunnels« und verlasse das Land, sagt der unabhängige kubanische Ökonom Omar Everleny Pérez gegenüber »nd«. Vor allem die jungen Leute kehrten ihrem Land in Scharen den Rücken. »Wer geht?«, fragt Everleny Pérez und liefert die Antwort gleich hinterher: Lehrer, Ärzte – es fehle heute vor allem an Spezialisten wie Kardiologen oder Gefäßmediziner. »Viele der Fachärzte gehen in die Vereinigten Staaten, aber vor allem nach Spanien, denn in Spanien kann der kubanische Arzt seinen Abschluss anerkennen lassen und in den öffentlichen Krankenhäusern praktizieren.«
Teller und Rand ist der nd.Podcast zu internationaler Politik. Andreas Krämer und Rob Wessel servieren jeden Monat aktuelle politische Ereignisse aus der ganzen Welt und tischen dabei auf, was sich abseits der medialen Aufmerksamkeit abspielt. Links, kritisch, antikolonialistisch.
Kubas Gesundheitswesen – immer ein Stolz der Revolution – fehlt es mittlerweile an Medikamenten und Ausrüstung, wie die Vize-Gesundheitsministerin Tania Margarita Cruz im staatlichen Fernsehen einräumte. Mehr als zwei Drittel der grundlegenden Arzneimittel seien knapp oder nicht verfügbar. Hinzu kommt ein Aderlass an medizinischem Personal. Nach Angaben des Nationalen Statistikamtes (ONEI) haben im vergangenen Jahr etwa 12 000 Ärzte das kubanische Gesundheitswesen verlassen.
Ein ähnliches Bild bietet sich an Schulen und Universitäten. Viele Lehrkräfte haben ihrem Beruf auf der Suche nach besserer Bezahlung den Rücken gekehrt oder sind ausgewandert, sagte Marlen Triana Mederos, Generaldirektorin für Grundbildung, im landesweiten Nachrichtenprogramm. Nach Angaben des Bildungsministeriums fehlen in den kubanischen Klassenzimmern mehr als 17 000 Lehrkräfte. Einem Bericht von »Canal Caribe« zufolge haben einige Schulen in Fächern, für die es keine Lehrkräfte gibt, den Unterricht zur Hälfte oder gar komplett ausfallen lassen. Auch andere Bereiche, wie die Müllabfuhr oder die öffentliche Verwaltung, sind von Personalmangel betroffen.
»Die Auswanderung hat Auswirkungen auf die sozialen Bereiche, die die Speerspitze des Wandels in Kuba waren«, sagt Everleny Pérez. Früher habe es geheißen »die Wirtschaft läuft schlecht, aber wir haben Gesundheit und Bildung«. Heute spiegele sich die Krise in grundlegenden Gesundheitsindikatoren, sagt der Ökonom. »Die Lebenserwartung sinkt. Die Kindersterblichkeitsrate hat sich verdoppelt. Die Müttersterblichkeit ist außerordentlich gestiegen.«
Hinzu kommen die Auswirkungen auf die Demographie. Da vor allem die Bevölkerung zwischen 19 und 49 Jahren das Land verlässt, Frauen im gebärfähigen Alter, ganze Familien, sinkt die Geburtenrate; der ohnehin schon hohe Anteil alter Menschen an der schrumpfenden Gesamtbevölkerung dagegen steigt.
Keine guten Aussichten, findet Everleny Pérez: »Das Problem ist die Zukunft. Ich sehe es in fünf oder zehn Jahren bei den Humanressourcen. Selbst wenn Investitionen getätigt werden, werden die Leute fehlen, die mit diesen Investitionen arbeiten können. In der Landwirtschaft gibt es niemanden, der die Ernte einbringt, es gibt keine Arbeitskräfte.«
Menschen bräuchten eine Perpektive oder zumindest Hoffnung auf eine Verbesserung ihres Lebensstandards, glaubt er. Egal, was die Regierung sage, »wenn sich die Wirtschaft nicht verbessert, kommen die Leute zu dem Schluss: Ich werde mein Glück woanders versuchen«.
Die Regierung habe die Probleme durchaus erkannt. »Das Problem ist die Entscheidungsfindung.« Everleny Pérez plädiert für eine weitere wirtschaftliche Öffnung: Kreditvergaben ausländischer Banken an den Privatsektor, Vermarktungsgenossenschaften in der Landwirtschaft. Man müsse die Produktivkräfte freisetzen.
»Es gibt einen Weg, der nicht darin besteht, zu einer kapitalistischen Wirtschaft überzugehen, denn man kann zu einer Marktwirtschaft übergehen, die nicht kapitalistisch ist. Das lebende Beispiel dafür ist Vietnam.« Vietnams Wirtschaft gehöre zu den dynamischsten der Welt und erwirtschafte Jahr für Jahr einen gewaltigen Handelsüberschuss gegenüber den USA, so Everleny Pérez. »Ich glaube, dass der Staat sehr wohl etwas tun kann, er muss nur den politischen Willen haben, die Veränderungen, die dieses Land braucht, durchzuführen. Wenn er das nicht tut, wird es im kommenden Jahr wie 2023 sein, und die Menschen werden weiterhin abwandern.«
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