Achim Freyer: Abgrundhoch und himmeltief

Achim Freyer wird der Konrad-Wolf-Preis der Akademie der Künste überreicht

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 4 Min.
Achim Freyer, ein ausgezeichneter Künstler. Hier bei der Verleihung des Deutschen Theaterpreises Der Faust 2022
Achim Freyer, ein ausgezeichneter Künstler. Hier bei der Verleihung des Deutschen Theaterpreises Der Faust 2022

Das Expressive knallt, das Surreale gespenstert, das Kubistische spitzt zu: Die Ordnungen der Kunstgeschichte treffen sich auf Achim Freyers Bühnen – und in den Gemälden seines »Kunsthauses« in Berlin-Lichterfelde – zur rauschenden Vereinigungsorgie, zum berückenden Flirt, in dem das Waagerechte und das Senkrechte, das Schnelle und das Langsame, das Runde und das Eckige, das Grelle und das Düstere, das Flirrende und das Fleckige lauter Mimosen und Monster zeugen.

Freyers Schauspiel-Inszenierungen und sein Musiktheater, seine Malereien und Bühnenräume sind ein Plädoyer für die Autonomie von Bildern. Seine Kunst ist eine Installation aus Licht und lauter Lauten. Meist leise. Dieses Theater bildet nicht ab, es ist in einem sehr verspielten Sinne ein Baukasten, es stellt Klang und Bewegung in anmutige, oft auch sehr komische Zusammenhänge. Mit Farben und Tönen und Choreografien wird freudig märchenhaft Verschlüsselung betrieben. Sozusagen abgrundhoch und himmeltief.

nd.Kompakt – unser täglicher Newsletter

Unser täglicher Newsletter nd.Kompakt bringt Ordnung in den Nachrichtenwahnsinn. Sie erhalten jeden Tag einen Überblick zu den spannendsten Geschichten aus der Redaktion. Hier das kostenlose Abo holen.

Alles, was auf der Bühne vorgibt, Natur zu sein, erhebt Freyer wieder in die Sphäre der Zeichen, in den Status des Spiegelbilds, darin die Erscheinungen ihren Doppelcharakter gestehen: Was ich sehe, ist nicht das Ding selbst, sondern nur ein Bild davon. Vielleicht sage man einfach: Verfremdung.

Die Uhren des Tatsächlichen glühen bei Freyer aus, die Zeiger zerfließen gleichsam in lange Fäden wie bei Dalí, werden zu dünnen Seilen, auf denen sich versponnen balancieren lässt. Ob er Shakespeare inszenierte oder Wagner, Gluck oder Händel, Schnebel und Lachenmann oder ob er eigene Collagen entwarf: Schauspieler sind bei ihm Tänzer, Sänger sind Schauspieler, sie schaffen Körper-Skizzen zwischen Erstarrung und Explosion, wirbliger Improvisation und asiatisch anmutendem Ritual.

Der 1934 geborene Berliner war Meisterschüler Brechts, er lernte dort jenen Eigensinn, den die DDR nicht sehr lange aushielt. »Miserabilismus« warf die Pädagogik des sozialistischen Realismus dem Bühnenbildner für Benno Besson, Adolf Dresen, Ruth Berghaus vor. Sein provokativ blümchen-kitschiges, also betont »dekadentes« Bühnen- und Kostümbild sorgte für die Absetzung des »Clavigo«, den Dresen 1972 am Berliner Deutschen Theater inszeniert hatte. Am Ende einer Italien-Tournee des DT, kurze Zeit später, entfernte sich Freyer aus kulturhistorischer Neugier noch einmal kurz von der Truppe, er wolle nur noch schnell eine Ausstellung besuchen, er gab aber Kollegen auf dem Weg zum Flughafen schon mal seinen gepackten Koffer mit. Als der später geöffnet wurde, fanden sich darin dicke, schwere Telefonbücher. Noch heute macht unter Schauspielern Freyers listige Täuschung die Anekdotenrunde.

Gaukler sind die Zentren in Freyers Werk: ein harlekinöses Farbchaos gegen das grau-gepresst Geordnete. Zarte Seifenblasen gegen den Rationalismus all der Begriffe, die jede Welt erklären wollen, statt sie als Wunder zu bestaunen. Wie viele Clowns hat er erfunden, die mit Vogelkäfigen balancieren? Der Käfig als offenster Ort für den treibenden Geist der Freiheit.

Dieser springjunge Turnschuhgreis ist ein rauschebärtiger Erfinder. Mit ihm hat ein Magier die Bühnen besetzt, beschlichen, erobert, umgarnt. Er hat zwischen Berlin und Los Angeles, Zürich und Wien, München und Moskau, Venedig und Warschau, Mannheim und Seoul, Stuttgart und Tokio die Symmetrien des Landläufigen zum Tanzen gebracht. So, dass die Perspektiven aller mathematischen Logik verschwimmen und die Blickwinkel sich weiten.

Dem Regisseur Claus Peymann ist er von Stuttgart bis zum Berliner Ensemble ein treuer Kombattant gewesen; erst jüngst wieder stattete er Peymanns Bernhard-Inszenierung »Minetti« am Bayerischen Staatstheater München aus. Placido Domingo nannte ihn einen »Genius der Vorstellungskraft«.

Er ist ein sehr farbig denkender Universalist, der aus Stücken Bilderbücher macht. Sein Theater schwebt, posiert, schlägt Rad oder erstarrt bizarr; es ist weniger Gestaltenwelt als Atmosphären-Galerie. Schönste Unbefangenheit beim Mischen von Todesangst und Lebensübermut. Das Schauspiel als Schaubude. Freyer, das ist höhere Naivität, ist Einssein eines Menschen mit sich selbst.

Wer etwas von ihm sieht, glaubt an die Vereinigung des Antipodischen; Brecht verträgt sich mit Gott und der Welt. Freyers visuelle Wunder, jener rührend-hohe Ton seiner schwebenden Welten – es ist ein zutiefst humanes Unterfangen: Ja zu sagen zu Leben und Liebe und Melancholie.

Die eingeschliffenen Blickwinkel reiben sich in den Bühnen-Bildern gleichsam die Augen – das Große ist klein, die Zwerge haben Riesenchancen, und das Gewaltige schnurrt zur belächelnswerten Kasperade zusammen. Alles Liebliche, so erzählt Freyer, bleibt leider nur Fantasie. Das ist eine traurige Wahrheit. Alles Schreckliche bleibt leider nicht immer nur Fantasie. Das ist die schlimmere Wahrheit. Kunst schafft da keine Hilfe, aber Trost. Das ist die flüchtigste Wahrheit, aber sie ist unsterblich.

Am heutigen Freitag bekommt Achim Freyer (coronabedingt verspätet) den Konrad-Wolf-Preis 2022 der Akademie der Künste Berlin-Brandenburg.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken von Socken mit Haltung und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.
- Anzeige -

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.