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Rechtsanwalt Wolfgang Kaleck: »Uns treibt eine Utopie an«
Wolfgang Kaleck über den Fall Mohamedou Ould Slahi und die Arbeit von Menschenrechtsanwälten
Herr Kaleck, Sie setzen sich für den in Guantanamo zu Unrecht inhaftierten und gefolterten Mohamedou Ould Slahi ein und haben kürzlich seine Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht Düsseldorf miterlebt. Er forderte die Aufhebung eines gegen ihn von der Ausländerbehörde Duisburg verhängten Einreise- und Aufenthaltsverbots in Deutschland, das Gericht gab dem statt. Wie beurteilen Sie das?
Für unseren Mandanten war es befriedigend, dass seine Sache in einem rechtsstaatlichen Verfahren verhandelt wird. In 14 Jahren Verschleppung, Folter und Inhaftierung in Guantanamo war er anderes gewöhnt. Dass er aber ab der deutsch-niederländischen Grenze von zivilen Polizeibeamten begleitet wurde, hat ungute Erinnerungen bei ihm geweckt. Dadurch wird suggeriert, Herr Slahi sei gefährlich. Das Verwaltungsgericht hat erst einmal Klarheit gegen willkürliche Rechtsinterpretationen durch Behörden geschaffen. Die Einreisesperre aus dem Jahr 2000, die auf einer längst verjährten Straftat und der seinerzeit verhängten Verurteilung zu einer Bewährungsstrafe beruhte, kann nicht nach Belieben verlängert werden.
Die Behörde hat damit gegen deutsches und europäisches Recht verstoßen. Wir haben uns außerdem gegen die Einstufung unseres Mandanten als »aktuell gefährlich« gewandt, denn sie beruht auf Unterstellungen. Herr Slahi ist nicht wegen Terrorakten verurteilt worden, und ein Gremium aus allen wichtigen US-Sicherheitsdiensten, das Review Board, hat ihm 2016 bescheinigt, keine öffentliche Gefahr darzustellen. Das Verwaltungsgericht hat allerdings der Ausländerbehörde ausdrücklich die Möglichkeit eröffnet, das Urteil anzufechten. Noch können wir also nicht sicher sein, ob und wann Herr Slahi wieder unbesorgt nach Deutschland einreisen kann.
Wolfgang Kaleck ist Leiter des European Center for Constitutional and Human Rights, das der Jurist im Jahr 2007 zusammen mit Kolleg*innen gründete. Der 63-Jährige ist (Ko-)Autor zahlreicher Bücher und wurde für sein Engagement mehrfach ausgezeichnet.
Wie kamen Sie in Kontakt zu Slahi?
Nachdem er 2016 endlich frei war und mit seinem Buch »Das Guantanamo-Tagebuch« seine Erfahrungen öffentlich gemacht hatte, entstand der Kontakt, auch über seine Anwältinnen. Ich bringe seit 2004 immer wieder US-Folter zur Anzeige. Sein Fall ist ein besonders drastisches Beispiel für die Zustände in Guantanamo, der veranschaulicht, was passiert, wenn Staaten rechtsfreie Räume einrichten. Auf seine Bitte hin haben wir uns 2018 entschieden, seine Belange zu unterstützen, unter anderem, als der Hollywood-Film »Der Mauretanier« über seine Geschichte auf der Berlinale vorgeführt wurde.
Was hat Sie persönlich dazu motiviert, sich in Menschenrechtsfragen zu engagieren?
Menschenrechtsfragen werden auch von Anwält*innen im Sozial- und Arbeitsrecht sowie im Ausländer- und Mietrecht bearbeitet, ohne dass dieses immer explizit so ausgesprochen und wahrgenommen wird. Ich habe zunächst vor allem als Strafverteidiger und Nebenklägervertreter gegen rechtsradikale Gewalttäter gearbeitet, ab 2008 dann viel im transnationalen Raum. Zunächst habe ich im Rahmen der deutschen Koalition gegen Straflosigkeit Opfer der argentinischen Militärdiktatur der 70er Jahre vertreten, und ab 2004 Überlebende der US-Folter im Gefängnis Abu Ghraib im Irak und im US-Gefangenenlager Guantanamo auf Kuba. Im Jahr 2007 habe ich schließlich das European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) gegründet.
Was war Ihr spannendster Fall und welche Erfolge konnte Ihre NGO erringen?
Es gibt Fälle, die für besonders viel Aufsehen gesorgt haben und langfristig zu politischen Veränderungen geführt haben – auch wenn der Fall vor Gericht verloren wurde. In diese Kategorie würde ich unsere Strafanzeigen gegen den früheren US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld, Ex-CIA-Chef George Tenet und andere einordnen, die wir 2004 und 2006 wegen der Folter in Abu Ghraib gestellt haben. Danach wurde anders über Folter diskutiert als davor. Ein besonderer Erfolg war die Verurteilung des ehemaligen syrischen Geheimdienstlers Anwar R. durch das Oberlandesgericht Koblenz im Januar 2022 zu lebenslänglicher Haft wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Und dass wir heute ein wenn auch unzulängliches deutsches Lieferkettengesetz haben und demnächst ein europäisches bekommen werden, dürfte auch den juristischen Interventionen des ECCHR und der Klage gegen das Textilunternehmen KiK nach dem Brand in dessen Zulieferbetrieb in Pakistan zu verdanken sein.
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Welche Herausforderungen sehen Sie für Menschenrechtsanwälte heute?
An vielen Orten der Welt wird Anwält*innen, die sich für Menschenrechte einsetzen, die Arbeit schwer gemacht, sie werden eingeschüchtert, und manchmal wird ihr Leben bedroht. Das gilt auch für zivilgesellschaftliche Organisationen, die sich gegen Menschenrechtsverstöße engagieren. Wie man die Beteiligten konkret schützen kann, ist natürlich ein wichtiges Thema für uns beim ECCHR. Darüber hinaus gibt es zunehmend strukturelle Hindernisse. Dazu gehört die Tendenz, bei Verstößen gegen Menschenrechte Doppelstandards anzulegen. Konkret wird unsere Arbeit dadurch behindert, dass Eingaben, Beschwerden oder Klagen extrem langsam bearbeitet werden. Im Bereich der Wirtschaft sind beispielsweise verschachtelte globale Konstruktionen, in denen Verantwortung für Rechtsverstöße hin- und hergeschoben werden, ein großes Hindernis.
Gegen derartige Verschleppungsstrategien setzt das ECCHR einen langen Atem und Hartnäckigkeit. Auch wenn ein Menschenrechtsskandal wie die Misshandlung und Versklavung von Migrant*innen in Libyen nicht mehr in den Schlagzeilen ist, versuchen wir, gemeinsam mit den zivilgesellschaftlichen Partnern das öffentliche Interesse wachzuhalten. Neben unserer Website, auf der die einzelnen Fälle dokumentiert sind, gibt es jetzt noch eine weitere Quelle: das »Living Open Archive«, in dem Verbindungslinien zwischen einzelnen Fällen und die Entwicklungen über längere Zeiträume nachvollziehbar werden.
Bietet Ihre Organisation Schulungen für Kolleg*innen an?
Ja. In unserem »Critical Legal Training« können Jurist*innen vieles lernen, was im Jura-Studium eher nicht gelehrt wird: die Verknüpfung von kritischer Theorie und Praxis, postkoloniale Theorie, Feminismus oder Intersektionalität. An diesem Training haben bisher gut 600 Jurist*innen aus 70 Ländern teilgenommen. Außerdem beteiligen wir uns an Forschungsprojekten, veranstalten wissenschaftliche Symposien und Workshops und kooperieren interdisziplinär mit Hochschuleinrichtungen und Expert*innen weltweit. Denn die praktische Arbeit braucht kritische Reflexion durch eine Theorie auf der Höhe der Zeit.
Welche langfristigen Ziele verfolgt Ihre Organisation?
Auf der Startseite unserer Website steht: Für eine Welt frei von Folter, Ausbeutung und abgeschotteten Grenzen. Das fasst unsere Ziele und Arbeitsgebiete ziemlich gut zusammen. Wir weisen immer wieder darauf hin, dass ein großer Teil der Weltbevölkerung gar keine einklagbaren Rechte hat. Deshalb ist das Recht auf Rechte ein wesentliches Ziel. Genauso müssen wir immer wieder Doppelstandards anprangern, denn in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte steht ja nicht: Manche Menschen sind frei und gleich. Der universalistische Anspruch dieser Erklärung ist noch nie wirklich eingelöst worden. Aber er ist eine konkrete Utopie, die uns bei unserer Arbeit motiviert und für die wir werben müssen. Besonders in Zeiten, in denen Abschottung, Autoritarismus und Gewalt wieder politisch salonfähig werden.
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