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Kurt Schwitters’ »Ursonate«: Wie zähmt man Dada?
Am Deutschen Theater Berlin wird Kurt Schwitters’ »Ursonate« als Sprechoper inszeniert
Die Silbe »ur« lädt zu einer gedanklichen Reise an den Anfang ein, hin zum Ur-sprünglichen, von dem aus alles Weitere erst möglich wurde. Das Archaische trifft hier auf den Beginn einer Entwicklung, die bis in die Jetzt-Zeit reicht. »Ur« ist das Gegenstück des »Post« und wenn wir heute in der Postmoderne feststecken, könnte es eines damaligen Tages eine Urmoderne gegeben haben, und vielleicht auch eine Ururururmoderne: ein Zeitalter, in dem die Vernunft sich regte, erste Einteilungen und Benennungen in der Welt vornahm, doch diese sich im Großen und Ganzen noch morgentaufrisch als Tabula rasa zeigte.
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Die Sprache dürfte noch Vorsprache oder eben Ursprache gewesen sein, eine Sammlung von Lauten, die ganz sicher von Bedeutung waren, derweil ihr Inhalt vorerst unklar blieb. An diesen Ort, in diese Zeit versetzt einen Kurt Schwitters mit seiner »Ursonate«. Der Dada-Künstler verfasste zwischen 1923 und 1932 mehrere Fassungen des Stücks, das fast ausschließlich mit Sprachmaterial wie etwa »Rrmmp«, »Lümpff«, »Pee« und »Graaaa« arbeitet. Einen Sinn ergibt das nicht, worin einerseits die Provokation und andererseits die Befreiung liegt. Das Publikum brach seinerzeit entweder in Gelächter aus oder war grässlich erbost.
Der Dadaismus erlöste die Kunst im frühen 20. Jahrhundert vom Zwang, etwas bedeuten zu müssen. Seine Vertreter loteten die ästhetischen, intellektuellen und emotionalen Ressourcen des Unsinns aus. Kurt Schwitters, der statt Dada den von ihm erfundenen Begriff »Merz« bevorzugte, war ein Weltenbauer. Der gebürtige Hannoveraner kombinierte nach dem Ersten Weltkrieg in seinen Collagen und Installationen Werbeannoncen, Zeitungsausschnitte und Fundstücke aus der Gosse miteinander und setzte so den Unrat einer im Morast der Schützengräben versunkenen Zivilisation neu zusammen. Später musste Schwitters emigrieren – seine Kunst galt als »entartet« – und gelangte über Norwegen, wo er zwei »Merzbauten« verwirklichte, nach England. Dort starb Schwitters bereits 1948, noch keine 60 Jahre alt.
Man darf seine Ursonate einerseits als Rückblick in einen fiktiven Urzustand verstehen, in der die Menschen noch nicht reden, aber bereits singen konnten. Und zugleich als Prophezeiung, als Versprechen auf eine Zukunft, in der ein Neubeginn möglich ist, und zwar in einer Welt, in der die Inhalte nicht zentnerschwer an jedem Zeichen hängen. Denn genau das ist in der Ursonate verwirklicht. Die von Schwitters sorgsam angeordneten Laute haben keine Bedeutung. Sie ergeben auf zugleich fröhliche wie beunruhigende Weise keinen Sinn. Wer die Ursonate aufführt, muss sich den hieraus resultierenden Herausforderungen stellen.
Will man diese Reinheit und Unschuld bewahren? Wäre das überhaupt möglich? Wenn es stimmt, dass man »nicht nicht kommunizieren kann« (Paul Watzlawick), dann gilt auch, dass kein Laut, kein krummer Ton, kein Sprachmüll ein solcher bleiben darf, wird er erst vor Publikum vorgetragen, da sich unweigerlich eine Haltung in ihn hineinschleicht. Der Unsinn, er ist ein scheues Reh.
Am Deutschen Theater Berlin muss der Unsinn schon zu Beginn der Proben geflohen sein. Hier arbeitet das achtköpfige Ensemble in Schwerstarbeit daran, die Laute wieder mit Bedeutung aufzuladen. Der Abend nennt sich »Ursonate [Wir spielen, bis uns der Tod abholt]« und wird als dadaistische Sprechoper klassifiziert. Das Ensemble spielt kleine Szenen, während sie – von Maria Schneider und Lih Qun Wong an Schlagwerk, Vibraphon und Cello begleitet – ihre Partitur singen, blöken, grunzen und niesen. Zum Beispiel etablieren sie – was naheliegt – die Situation einer Chorprobe, bei der sich Anita Vulesica, zum Argwohn der Übrigen, in den Vordergrund spielt. Ihre Gesangseinsätze werden immer exaltierter, die Reaktionen der Kollegen genervter, bis sie – nun vollends in Raserei – Vulescia von der Bühne jagen, sie schließlich sogar meucheln.
Auch mit sprachlichen Versatzstücken wie »Ooka«, »Ennze« oder »bimbimm« lässt sich also viel erzählen – oder zumindest ihnen zum Trotz. In einer anderen Szene protestiert Mareike Beykirch immer wieder »Eke!« rufend gegen ein Kommando von Dirigent Yannick Wittmann, zettelt unter ihren Mitstreitern gar einen Aufstand an, bis sie allesamt von Schlagzeugerin Schneider niederkartätscht werden. Diese und viele andere Szenen sind wirklich lustig, man fühlt sich mitunter an die großen Inszenierungen von Herbert Fritsch an der Volksbühne erinnert, an »Pfusch« und natürlich an das Dieter-Roth-Stück »Murmel Murmel«, in dem tatsächlich nur die titelgebenden Worte fielen – beziehungsweise war’s ja eigentlich sogar nur eins.
Wie bei Fritsch schickt Regisseurin Claudia Bauer eine Reihe fremd wirkender Gestalten in die Welt und baut ihnen Konflikte und kleine Abenteuer auf eine weitgehend leere Bühne (von Patricia Talacko) mit wechselndem Licht (von Cornelia Gloth). Passend zum heiligen Ernst, mit dem sie sich der Albernheit ergeben, tragen sie erst Brautkleider, später uniforme Anzüge am Leib (Kostüm: Vanessa Rust). Ihre Komik entsteht weniger aus dem Umstand, dass es keinen richtigen Text gibt, als aus den Möglichkeiten, die sich aus diesem Fehlen ergeben. Ohne hemmende Bedeutung spielt es sich gleich viel freier und fantasievoller. Peer Baierlein hat Schwitters’ Sonate eine Komposition beigefügt, die sich mal beim Marsch, beim Walzer, bei der Pop-Ballade oder dem Jazz bedient und so dem Ensemble immer wieder Möglichkeiten bietet, neue Einfälle zu entfalten, was auch noch erzählt werden kann, während man hochkonzentriert Unverständliches von sich gibt.
Am Ende, beim Applaus, blickt man in völlig erschöpfte Gesichter. Was das Ensemble in gut 100 Minuten abliefert, ist Hochleistungsschauspiel und sehr komisches Musiktheater. Freilich hat dieser Erfolg einen Preis: Von Unsinn ist letztlich nichts mehr übrig. Er ist in Blödsinn transformiert worden. Das ist ein Verlust, aber kein Mangel der Inszenierung, sondern ihr Ziel. Die ganze Anstrengung dieses Theaterabends, und es ist eine gewaltige, beruht darin, Bedeutung zu stiften, wo zuvor keine zu erkennen war. Claudia Bauer und ihr Ensemble zähmen Schwitters, sie machen ihn konsumierbar. Das schallende Lachen des Publikums zeugt auch ein wenig von der Dankbarkeit, nicht mit Bedeutungslosigkeit konfrontiert zu werden. Anders gesagt: Mit Dada oder mit »Merz« hat das, was auf der großen Bühne des Deutschen Theaters stattfindet, nicht mehr viel zu tun. Das ist intellektuell enttäuschend, doch wird man mit großem Quatsch entschädigt. Und der sollte im Spielplan eines jeden Theaters vorkommen.
Nächste Vorstellungen: 22.12., 31.12., 3.1., 9.1., 28.1.
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