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Chile bleibt Pinochets Verfassung treu
Mit dem Nein beim Plebiszit bleibt die Verfassung der Diktatur in Kraft
Die Kommunistin Rosa Huilipan wirkt erleichtert. Eine halbe Stunde nach Schließung der Wahllokale und Beginn der Zählung steht bereits fest: Die neue Verfassung wurde abgelehnt. Gut 55 Prozent der Chilen*innen stimmten gegen den Entwurf, der maßgeblich von der ultrarechten Partido Republicano geschrieben worden war und weitaus konservativer und neoliberaler als die bisherige Verfassung war – jene aus Zeiten der Militärdiktatur unter Augusto Pinochet. Bei obligatorischer Wahlteilnahme gingen rund 80 Prozent der Wähler*innen an die Urne.
Huilipan war während der Wahlkampagne fast täglich auf der Straße, über den Wahltag war sie leitende Beobachterin in einem Lokal in Independencia im Norden der Hauptstadt Santiago. Das Ziel war es, eine Verfassung zu verhindern, die den Staat weiter ausgehöhlt, das Recht auf Abtreibung verboten und soziale Rechte beschnitten hätte. »In Independencia konnten wir die linken Kräfte vereinen und gemeinsam arbeiten«, sagt Huilipan stolz. Die Befürworter*innen seien zumindest auf der Straße fast vollständig abwesend. »Wir sahen auf den Märkten einzig Personen, die für das Verteilen von Flyern bezahlt wurden«, meint die Gemeinderätin für den lokalen Bezirk.
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Die Niederlage stellt den ersten Rückschlag seit der Ablehnung des ersten progressiven Verfassungsentwurfs für den rechtsextremen Dauerpräsidentschaftskandidaten José Antonio Kast dar. Nachdem ein erster Verfassungsentwurf mit starker linker Prägung im September 2022 abgelehnt worden war, sah sich die Rechte im Höhenflug. In den Wahlen zum zweiten Verfassungsrat im Mai 2023 wurden die Republicanos mit 22 von 50 Sitzen zur stärksten Kraft.
Kein Anlass zum Feiern
Am Sonntagabend baute das Wahlkampfteam von Kast stillschweigend eine große Bühne im Oberschichtsviertel der Hauptstadt ab und gab seine Pressekonferenz von einem Hinterhof aus. Auf einer improvisierten Bühne versuchte Kast, die Wahlschlappe zu mindern. »Weder die Regierung noch die Linken haben Anlass zum Feiern, denn Chile hat in den vergangenen vier Jahren viel Schaden erlitten und es wird viele Jahrzehnte dauern, bis diese repariert werden«, sagte er in Bezug auf den verfassungsgebenden Prozess seit 2019. Es sei an der Zeit, wieder zum Weg der Hoffnung und Ordnung, des Friedens und Fortschritts zurückzukehren, von dem die Gesellschaft mit den massiven Protesten von 2019 abgekommen sei. Damals einigte sich als Reaktion auf die Proteste eine große Mehrheit der Parteien auf einen verfassungsgebenden Prozess, um dort tiefgreifende soziale Reformen durchzuführen. Die Republicanos blieben außen vor.
Im Wahllokal, in dem Huilipan als Beobachterin tätig ist, macht der leitende Wahlbeobachter der Befürworter*innen, Juan Troncoso, die rechtsextremen Republicanos mitverantwortlich für die Schlappe. »Sie waren im Inhalt zu extrem, das hat uns Ja-Stimmen gekostet«, meint er, der der rechtstraditionellen Unión Democrata Independiente (UDI) nahesteht. Auch rechtsradikale Milieus, denen der Verfassungsentwurf zu wenig rechts erschienen sei, hätten mit Nein gestimmt, so Troncoso. Sie hätten die unklare Einschränkung der Abtreibung kritisiert und die Tatsache, dass die Verfassung von einem Sozialstaat gesprochen habe.
Keine Verfassung für alle
Anstatt sich in der Kampagne auf den Inhalt der neuen Verfassung zu konzentrieren, stellten die Befürworter*innen Themen der Sicherheit und die Ablehnung der aktuellen Regierung in den Vordergrund. Obwohl Expert*innen das Gegenteil behaupteten, meinten die Befürworter*innen, mit der neuen Verfassung würde die Verfolgung von Kriminalität gestärkt, vor allem der von Ausländer*innen begangenen.
Der Präsident der rechten UDI, Javier Macaya, behauptete noch vor dem Plebiszit, es stelle »eine Bewertung der Regierung Boric dar«. Ein Wahlspruch der Rechten lautete: »Boric stimmt gegen die neue Verfassung, stimme du dafür.«
So zeigte sich der Präsident Gabriel Boric noch am Sonntagabend sichtlich erleichtert und machte zugleich klar, es werde unter seiner Präsidentschaft keinen neuen verfassungsgebenden Prozess geben. »Andere Themen sind dringender«, so der Präsident. Die Politik habe es nicht geschafft, eine Verfassung für alle zu schreiben.
Kurz darauf erklärte die Regierungssprecherin Camila Vallejo, »der Traum eines besseren Chiles bleibt bestehen«, und kündigte für die kommenden Tage an, ein lang erwartetes Reformprojekt für die Rentenversicherungen auf den Weg zu bringen.
Im Wahllokal im Norden von Santiago meint Huilipan etwas bedrückt: »Der Sieg hat einen bitteren Nachgeschmack, schlussendlich sind wir wieder bei der Verfassung von Pinochet.« Für die kommenden Monate möchte sie sich auf die Lokalwahlen im Oktober 2024 konzentrieren. Diese gelten als Vorstufe zu den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2025, bei denen vermutlich erneut der rechtsextreme Kast antritt.
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