Werbung
  • Kultur
  • Staatsschauspiel Dresden

»Woyzeck«-Inszenierung: Femizid im Theater

Die »Woyzeck«-Inszenierung von Lily Sykes am Staatsschauspiel Dresden zeigt die Genese der Gewalt zwischen den Geschlechtern

  • Lara Wenzel
  • Lesedauer: 5 Min.
Militär, Musikant, Akrobat: Der Tambourmajor (Philipp Grimm) macht was her.
Militär, Musikant, Akrobat: Der Tambourmajor (Philipp Grimm) macht was her.

Ein Beziehungsstreit endete blutig. In einer Eifersuchtstat ermordete Franz W. seine untreue Partnerin, nachdem sie mutmaßlich eine Affäre mit einem Tambourmajor eingegangen war. Durch beträchtlichen sozialen und psychischen Druck war der Vater des gemeinsamen Kindes in die Familientragödie getrieben worden.

In diesem Jargon könnte das Geschehen in Georg Büchners Sozialdrama auf der Titelseite der Boulevardzeitungen ausgeschlachtet werden. Woyzecks Mord an Marie wäre dann eine weitere partnerschaftlich Gewalttat unter vielen. Laut Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend wurden im vergangenen Jahr 133 Frauen und 19 Männer von ihren Partner*innen oder Ex-Partner*innen getötet. Unsichtbar bleibt in dieser Statistik, dass transfeminine Personen, deren amtlicher Geschlechtseintrag männlich ist, als Männer geführt werden.

Woyzeck, der vom Doktor zum Versuchsobjekt gemacht und vom Hauptmann ausgebeutet wird, verliert den Verstand, weil ihm die Umstände keine Wahl lassen. Aus heutiger Sicht klingt das wie eine Ausflucht mordender oder übergriffiger Männer, wie sie Kim Posster in seiner Kritik der kritischen Männlichkeit skizziert. »Der gewalttätige Hass wird lediglich als schlimme ›Konsequenz‹ von verletzten Bedürfnissen und Gefühlen begriffen und nicht bereits als das treibende Moment dieser Begehrensstruktur und Emotionalität selbst«, heißt es in »Männlichkeit verraten!«.

Die Theaterregisseurin und Schauspielerin Lily Sykes weiß um diesen Entschuldigungshang. In ihrer Inszenierung am Staatsschauspiel Dresden zeigt sie die Momente, in denen sich der Soldat Woyzeck für Frau und Kind aufopfert, aber sie eigentlich im Stich lässt. Nihan Kirmanoğlu trägt mit ihrer starken Präsenz als Marie den Abend, während der abgehetzte Marin Blülle der oft gespielten Rolle Woyzeck nur den bekannten Zug des Leidenden abringt.

»Wie würdest du mich umbringen?«, fragt Marie den verliebten Woyzeck in der ersten Szene. Zärtlich beginnen sie sich auf einer Folie zu wälzen, Bisse werden angedeutet und Kunstblut spritzt auf das Gegenüber. Die selbstbewusste Frau scheint die Oberhand im Spiel zu behalten, bis sie mit rot besudeltem Pullover am Boden liegt. Eingewickelt in die Plastikfolie zucken ihre Beine nicht mehr. Die einvernehmliche Rangelei schlägt in männliche Gewalt um und gibt einen Vorgeschmack auf die Ansprüche, die sowohl Woyzeck als auch der Tambourmajor auf Maries Körper für sich beanspruchen.

Allein mit dem Kind – der getriebene Woyzeck schaut den Sohn kaum an, wenn er zu Hause ist –, fühlt sie sich ans Haus gefesselt und verspricht sich Freiheit von der Romanze mit dem Tambourmajor. Mit gestähltem Oberkörper baumelt Philipp Grimm in akrobatischen Figuren von einem dicken Tau und spielt mit den Muskeln. »Er steht auf seinen Füßen wie ein Löw«, bewundert Marie den stattlichen Kerl. Unter ihren eigenen Bedingungen versucht sie ihn anzulocken, aber auch dieser Mann ignoriert die Spielregeln. Der Leiter des Spielmannszuges presst die Frau an sich und nimmt sich die Zärtlichkeiten, die ihm vermeintlich zustehen. Auch wenn der höher besoldete Korpsführer Marie mehr Sicherheit bietet als der arme Woyzeck, weiß sie, dass ihr nur ein neues Gewaltverhältnis blüht. Schwitzend, mit nacktem Oberkörper geraten die Männer aneinander, wenn sie um die Wette tanzen oder um die Frau als Trophäe konkurrieren.

Auch Woyzeck wird im sozialen Gefüge zum Objekt. Der Hauptmann, den Sven Hönig zwischen Schwermut und Hysterie schwankend spielt, begrapscht den Soldaten, der ihn rasieren soll, und Ursula Hobmair in der Rolle des kalkulierenden Arztes demütigt ihren Patienten, indem sie ihm in die Unterhose schaut. Wie Maries Körper zum verfügbaren Objekt wird, beanspruchen die Vorgesetzten Verfügbarkeit über Woyzecks Leib und Seele. Während der darüber reflektiert, wie beschränkt seine Existenz ist, wie gering seine gesellschaftliche Handlungsfähigkeit, interessieren sich die Höhergestellten nur für seine Arbeitskraft. Büchner sei »vielleicht der unter den damaligen Revolutionären, der die ökonomische Befreiung der Massen in den ›Mittelpunkt‹ seiner revolutionären Tätigkeit stellt«, urteilte Georg Lukács in seinem Essay über den Realisten.

Büchner arbeitet sich in seinem Fragment gebliebenen Stück am realen Kriminalfall des Mörders Johann Christian Woyzeck ab, der seine Frau aus Eifersucht erstach und dafür hingerichtet wurde. Dabei plädierte der psychotische Mann auf Unzurechnungsfähigkeit. Die zerfallende Sprache und den Verfolgungswahn des Antihelden leitet Büchner aus den aufzehrenden Bedingungen seines Lebens ab. In der Inszenierung treiben die Stimmen seiner Peiniger den Getretenen zur »Eifersuchtstat«. Möglichkeiten innezuhalten, einen Moment bei Marie zu verweilen, ihr zuzuhören und ihre Bedürfnisse als überforderte Alleinerziehende ernst zu nehmen, blitzen nur selten auf.

Beglückende Momente wie ein Besuch auf dem Jahrmarkt mit der kleinen Familie oder das Lied über die zwei Königskinder, das live vom Musiker Jan Schöwer über die Liebe der zwei Protagonist*innen performt wird, fallen wie das große rote Tuch, das sich kurzzeitig über der Bühne aufbläst, schnell wieder in sich zusammen. Doch sind diese Szenen der Schlüssel, um Woyzecks Handeln aus dem Sozialdeterminismus zu reißen; um die Einsicht zuzulassen, dass er diese Gewalt so wollte – sogar lustvoll bejahte, wie es in der blutgetränkten Anfangsszene sichtbar wird.

Die starke weibliche Hauptrolle entfernt die Zuschauenden davon, den Mord als notwendigen Schritt zu sehen und die Tat zu entschuldigen. Ein Reigen aus Piktogrammen, der auf Metallplatten projiziert wird, kommentiert die Geschichte zum Abschluss auf seine Weise: Liebesherzen – ein Fötus im Bauch – eine Frau mit Kind auf dem Spielplatz – ein Mann auf dem Weg zur Arbeit. Im Schnelldurchlauf ziehen die vergeschlechtlichten Lebenswege vor unseren Augen vorbei. Dann blinkt nur noch der Dolch, die Tatwaffe, auf. Gewalt eröffnet und schließt den Abend.

Nächste Vorstellungen: 25.12., 17.1. 30.1., 27.3.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.