US-Gewerkschaften kehrten 2023 zur alten Radikalität zurück

Gewerkschaften in den USA können wieder kämpfen. Für die Zukunft haben sie große Pläne

  • Julian Hitschler
  • Lesedauer: 4 Min.
In den südlichen US-Bundesstaaten gibt es noch viel zu erkämpfen: Streikkundgebung vor dem Ford-Werk in Louisville, Kentucky
In den südlichen US-Bundesstaaten gibt es noch viel zu erkämpfen: Streikkundgebung vor dem Ford-Werk in Louisville, Kentucky

Für die US-Gewerkschaftsbewegung geht ein Jahr zu Ende, das die Wende von der Defensive zur Offensive brachte: Die organisierte Arbeiterklasse der USA hat eine neue Militanz erfasst, die vor wenigen Jahren noch undenkbar schien. Und diese neue Bewegung ist kein Strohfeuer, sondern beruht auf der jahrelangen Vorarbeit von aktiven Mitgliedern, die nun eine Dynamik entfesselt hat, die sich nicht so schnell wieder bremsen lassen wird.

»Sieg führt zu Sieg, und die Öffentlichkeit steht hinter ihr«, fasst die erfahrene Gewerkschaftsjournalistin Alex Press auf dem Nachrichtenportal »Business Insider« die Lage der Bewegung zusammen. Und in der Tat, die Liste der erfolgreichen Arbeitskämpfe im vergangenen Jahr ist beeindruckend: Beim Logistikdienstleister UPS reichte eine reine Streikandrohung, um einen Rekordabschluss zu erzielen. Beim Gesundheitskonzern Kaiser Permanente wehrten sich Krankenpfleger*innen und andere Beschäftigte gegen ihre unhaltbaren Arbeitsbedingungen – mit Erfolg.

Trotz alledem – Wie Menschen gemeinsam für ihre Rechte kämpfen

Für Millionen Menschen war 2023 geprägt durch Kriege, Flucht und materielle Unsicherheit. Hetze gegen die vermeintlich Anderen grassiert. Die EU grenzt Flüchtlinge zunehmend aus. Derweil steigen Mieten und Löhne sinken. Doch 2023 gab es auch Bewegungen, die sich all dem widersetzen.

Russen wenden sich gegen den Krieg, Beschäftigte streiken gemeinsam für ihre Rechte, Mieterinnen kämpfen für bezahlbares Wohnen. In »nd.DieWoche« stellen wir einige Initiativen und Bewegungen vor, die auf Solidarität und Versöhnung setzen. Mehr auf www.nd-aktuell.de/die-woche

Weltweite Beachtung erhielt der monatelange Streik in der Film- und TV-Branche. Anfangs waren die Befürchtungen groß, als der Vertrag der Drehbuchautor*innen mit den Studios in Hollywood auslief. Künstliche Intelligenz und Prekarisierung, so die Sorge, würden einen ehemals attraktiven Kreativberuf nun für die Beschäftigten ruinieren. Es kam anders. Zum ersten Mal in der Geschichte streikten die Schauspieler*innen der SAG-AFTRA mit ihren Kolleg*innen. Das Resultat nach mehreren Monaten Ausstand: umfassende kreative Schutzrechte und ein attraktiver Tarifvertrag für beide Berufsgruppen.

Doch kaum ein Arbeitskampf hielt die USA 2023 so in Atem wie die der Streik der United Auto Workers (UAW). Die Traditionsgewerkschaft hatte in den letzten Jahren Abwehrkampf nach Abwehrkampf geführt. Im März aber zogen die Mitglieder einen Schlussstrich und wählten mit Shawn Fain einen neuen UAW-Chef, der für einen konfrontativeren Kurs stand.

Fain gewann mit dem Versprechen, der Gewerkschaftsbasis wieder das Sagen zu geben. Das Rennen war äußerst knapp: Nur rund 500 Stimmen trennten Fain von seinem moderaten Konkurrenten. Auch für die erfolgreichen Tarifverhandlungen bei UPS war ein Führungswechsel entscheidend. Die Gewerkschaft International Brotherhood of Teamsters hatte bereits 2022 eine neue Spitze gewählt, die einen radikaleren Kurs in Aussicht stellte. Fain erfüllte die Erwartungen an eine kämpferische UAW nicht nur, er übertraf alles, womit Beobachter*innen gerechnet hatten: Zum ersten Mal in ihrer Geschichte legten die Beschäftigten der drei großen US-Autokonzerne General Motors, Ford und Stellantis (früher Chrystler) gleichzeitig die Arbeit nieder. Eine riskante Strategie, die aufging: Nicht nur war die Streikkasse der UAW nach Jahren der Zurückhaltung prall gefüllt. Auch schonten Fain und die UAW-Führungsriege ihre Kasse durch die Taktik der rollenden Streiks, die besonders empfindliche Punkte in den Lieferketten der Unternehmen auf unvorhersehbare Weise traf.

Am Ende stand nicht nur ein Tarifvertrag mit Rekordabschluss, dieser war auch Tief vom Gedanken der Solidarität geprägt: Die größten Lohnerhöhungen gab es für schlecht bezahlte Leiharbeiter*innen, die nun viel schneller den Status einer regulären Beschäftigung erhalten. Die UAW wehrte sich bewusst – und erfolgreich – gegen die Strategie der Spaltung zwischen Kern- und Leihbelegschaften, die in der Vergangenheit so viel Schaden angerichtet hatte.

Trotz aller Erfolge sind die US-Gewerkschaften aber in keiner komfortablen Lage. Beschäftigte von Amazon und Starbucks müssen weiter um ihren ersten Tarifvertrag kämpfen, die Organisierung neuer Branchen bleibt eine Mammutaufgabe, die viel Durchhaltevermögen erfordert. Neugründungen wie die Amazon Workers Union des charismatischen Lagerarbeiters Chris Smalls aus New York haben weiterhin einen schweren Stand. Doch die Bewegung hat bewiesen, dass sie auch lange, aufreibende Kämpfe gewinnen kann. Und sie hat für das kommende Jahr ambitionierte Ziele: Die UAW will sich als nächstes die Werke der in den USA nicht gewerkschaftlich organisierten Automobilhersteller wie Toyota, VW oder Tesla vornehmen. Es könnte der bestimmende US-Arbeitskampf des Jahres 2024 werden.

Und auch für die Zeit danach haben Fain und die UAW Pläne: Das Enddatum ihrer aktuellen Tarifverträge setzte die Automobilgewerkschaft auf den 1. Mai 2028, verbunden mit der Aufforderung an andere Gewerkschaften, dem Beispiel zu folgen. Damit legt die UAW den Grundstein für einen Generalstreik, der die Kräfteverhältnisse in den USA unverrückbar zu Gunsten der Beschäftigten verschieben könnte.

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