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Mannheim: Auffällig viele Fälle tödlicher Polizeigewalt
Die Polizisten sollen den Versuch einer Deeskalation durch Angehörige verhindert haben
Der am 23. Dezember in Mannheim verstorbene Ertekin Özkan starb durch Polizeikugeln. Dieses wenig überraschende Obduktionsergebnis haben das Landeskriminalamt (LKA) in Baden-Württemberg und die Staatsanwaltschaft Mannheim in einer Pressemitteilung bekannt gemacht. Der 49-Jährige hatte die von ihm selbst gerufenen Polizisten auf der Straße mit einem Messer bedroht. Einer oder mehrere der Beamten schossen daraufhin viermal mit der Dienstwaffe, der dadurch schwer verletzte Mann verstarb anschließend im Krankenhaus.
Die Todesschüsse sind auf Videos im Internet dokumentiert. Daraus ist zu entnehmen, dass sich Özkan in einer psychischen Ausnahmesituation befand. Mit nacktem Oberkörper bewegte er sich auf die Polizeikräfte zu.
Erstmals macht die Polizei auch Angaben zu dem Notruf des späteren Opfers. Demnach habe Özkan behauptet, dass in seiner Wohnung eine tote Person liegen würde. Dies habe sich bei der polizeilichen Überprüfung aber als falsch erwiesen.
Der Verstorbene wurde in Mannheim geboren, hat die türkische Staatsangehörigkeit und lebte mit seinen drei Kindern bei seiner Mutter. In der Vergangenheit sei er »bereits mehrfach polizeilich in Erscheinung getreten«, heißt es in der Mitteilung der Behörden. Damit bestätigt das LKA indirekt die Kritik der Familie Özkans, wonach der Polizei dessen psychische Erkrankung bereits bekannt war.
Während die Polizei den Einsatz eskalierte, wollten Angehörige in der Ausnahmesituation auf Özkan einwirken. Dies habe die Polizei jedoch verhindert, berichten türkische Medien sowie die Mannheimer Linke-Politikerin Gökay Akbulut. Auf der Plattform X zitiert die Bundestagsabgeordnete eine Tochter des Toten: »Aber egal wie oft wir es versuchten, die Polizisten haben nicht auf uns gehört. Sie haben ihn erst weggeschubst, dann mit vier Kugeln getötet. Vor den Augen unserer Familie und Freunde. War das wirklich Notfall?«
Das Obduktionsergebnis der Rechtsmedizin Heidelberg ist vorläufig, ein endgültiges Resultat sowie das Ergebnis einer toxikologischen Untersuchung stehen noch aus. Damit soll geklärt werden, ob Özkan unter dem Einfluss berauschender Substanzen stand. Nach Angaben einer Tochter sei der Mann bis vor zwei Jahren drogenabhängig gewesen.
Das LKA will über 20 Zeugen angehört haben. Zur Rekonstruktion des Ablaufs werten die Beamten 130 Videos aus, die unter anderem über ein Hinweisportal im Internet eingingen. Forensische Sachverständige führten der Mitteilung zufolge außerdem »umfangreiche und umfassende ballistische Untersuchungen« zu dem Schusswaffeneinsatz durch. Damit wolle man versuchen, die Schussabgabe »lückenlos aufzuhellen«.
Vergangene Woche hat die »Initiative 2. Mai« am Tatort in Mannheim-Schönau sowie in der Innenstadt unter dem Motto »Wie viele noch?« Kundgebungen mit jeweils Hunderten Teilnehmenden abgehalten. Die Initiative hat sich nach einem weiteren Fall tödlicher Polizeigewalt benannt: Am 2. Mai 2022 starb ein ebenfalls psychisch kranker Mann infolge eines Einsatzes in der Mannheimer Innenstadt. Der 47-Jährige erstickte aufgrund einer angelegten Fesselung und einer erzwungenen Körperhaltung, in der er nicht mehr atmen konnte. Zuvor hatte ihm ein Polizist mit der Faust zweimal gegen den Kopf geschlagen.
Am 12. Januar beginnt nun der Prozess gegen die Täter von vor eineinhalb Jahren: Einem Beamten wird Körperverletzung im Amt mit Todesfolge in Tateinheit mit versuchter gefährlicher Körperverletzung vorgeworfen, dem anderen fahrlässige Tötung durch Unterlassen. Bis Anfang März sind acht Verhandlungstage angesetzt.
»Die Verschärfung der Polizeigesetze, die sich immer mehr ausweitenden Befugnisse der Polizei, die stärkere Kontrolle und natürlich die fehlenden Konsequenzen: sie alle sorgen dafür, dass Polizist:innen das Gefühl bekommen, mit so einem Verhalten im Recht zu sein«, schreibt die »Initiative 2. Mai« anlässlich des bevorstehenden Prozesses.
Tatsächlich gibt es in der Stadt mit rund 300 000 Einwohnern auffällig viele Fälle tödlicher oder übermäßiger Polizeigewalt. Am 10. Mai 2022 hatte ein Beamter einem selbstmordgefährdeten Mann in den Oberschenkel geschossen, dieser starb anschließend. Den Schuss bewertete die Staatsanwaltschaft als Notwehr und stellte die Ermittlungen kurz darauf ein. Der 31-Jährige sei infolge eines Blutverlusts durch Messerstiche gestorben, die er sich selbst zugefügt hatte, so der Obduktionsbericht.
Im September hatte die Polizei in Mannheim außerdem eine strafrechtliche Bewertung zum Fall einer Polizistin eingeleitet, die bei einem Protest der Letzten Generation Öl auf eine Demonstrantin geschüttet hatte. Auf »X« berichteten Aktivistinnen von weiteren Schikanen und Misshandlungen durch dieselbe Beamtin im Gewahrsam.
Dieses Verfahren betreffend »Maßnahmen im polizeilichen Gewahrsamsbereich« wurde inzwischen eingestellt, sagt die Staatsanwaltschaft auf Anfrage des »nd«. Es bestünden »keine zureichenden Anhaltspunkte dafür«, dass die Behandlung der Klimaaktivisten nicht rechtmäßig gewesen sei. Auch hinsichtlich der Ölattacke sei kein strafbares Verhalten der Polizeibeamtin zu erkennen, denn es sei dabei nichts Schlimmes passiert: »Im Rahmen der Ermittlungen ergaben sich keine zureichenden Anhaltspunkte dafür, dass es durch das Verhalten der Polizeibeamtin zu Beschädigungen oder Verletzungen gekommen wäre, die den Tatbestand der Sachbeschädigung oder der Körperverletzung erfüllen würden«, so die Sprecherin der Staatsanwaltschaft.
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