Israel: Netanjahus Justizreform ausgebremst

Israels Oberster Gerichtshof kippt Vorhaben der Regierung

  • Oliver Eberhardt
  • Lesedauer: 4 Min.

Die Entscheidung kam überraschend und schlug ein wie eine – Bombe. Vor fast drei Monaten begann mit dem Massaker an 1200 Israelis der Gaza-Krieg und erwischte Israels Premier Benjamin Netanjahu und seine Regierung aus heiterem Himmel. Am Montagabend verkündete Israels Oberster Gerichtshof, ebenso unerwartet, dass er ein Kernelement der Justizreform für verfassungswidrig hält.

Monatelang waren vor Kriegsausbruch Woche für Woche Hunderttausende auf die Straßen gegangen, um gegen das nahezu alle Aspekte der Justiz umfassende Umbauprojekt zu protestieren. Der Vorwurf: Netanjahus Regierung versuche, das Land in eine Diktatur zu verwandeln. Im Sommer hatte Netanjahu dann mit ausgesprochen knapper Mehrheit ein Grundgesetz durchs Parlament gebracht, das es dem Obersten Gerichtshof untersagt hätte, Entscheidungen der Politik für unangemessen und damit unzulässig zu erklären.

Grundsatzentscheidungen statt einer Verfassung

Israel hat keine Verfassung; als Ersatz dienen die Unabhängigkeitserklärung und eine Reihe von »Grundgesetzen«. Der Oberste Gerichtshof hat darüber hinaus im Laufe der Jahre auch Grundsatzentscheidungen gefällt. Diese Entscheidungen erhielten dann nebengesetzlichen Charakter, ohne irgendwo festgeschrieben zu sein. Die »Angemessenheitsklausel« ist die wichtigste unter diesen Regeln und stammt aus den 80er Jahren. Damals war deutlich geworden, dass eine Regierungsmehrheit in der Knesset grundsätzlich alles beschließen kann und es dann mangels einer zweiten Parlamentskammer an einem Korrektiv fehlt.

Dass der Oberste Gerichtshof nun, mitten im Krieg und nahezu ohne Vorankündigung, seine Entscheidung öffentlich machte, war wohl nicht geplant: In der vergangenen Woche hatten israelische Medien bereits nahezu die komplette Entscheidung veröffentlicht, kurz nachdem aus der Regierung heraus die Forderung geäußert wurde, dem Gericht die Bekanntgabe per Gesetz bis zum Kriegsende zu verbieten.

Die Zustimmung zur Entscheidung ist groß, auch bei Unterstützern von Netanjahus Likud-Partei, die ab den 70er Jahren aus liberalen Parteien hervorgegangen war. Menachem Begin, der erste Regierungschef, den der Likud stellte, hatte Anfang der 80er Jahre die Angemessenheitsklausel gar als »Weiterentwicklung der israelischen Demokratie« und »Sicherung der Freiheit« gepriesen. In den 90er Jahren, als dann Jitzhak Rabin mit einer linkszentristischen Koalition an die Macht kam, nutzte der Likud die Regel, um die Osloer Verträge juristisch anzugreifen – vergeblich.

Denn auch dies geschieht: Auch wenn die Richter am Obersten Gerichtshof politischen Lagern zugeordnet werden können – ihre Entscheidungen fallen selten entlang der politischen Grenzen. Wer in das Amt des Höchstrichters will, muss einen rigorosen Auswahlprozess durchlaufen, bisher. Die aktuelle Regierung würde es gern ermöglichen, frei werdende Posten mit treuen Gefolgsleuten zu besetzen. Die Begründung: Das Gericht sei links, bilde die politischen Mehrheiten nicht ab. Oder anders gesagt: Nach dem Gusto der Rechten entscheiden die Richter zu oft gegen den Siedlungsbau, gegen Versuche, das öffentliche Leben strenger an religiösen Vorschriften auszurichten.

Regierung hat wenig Spielräume

Nun wird darüber spekuliert, ob sich die Regierung an die Entscheidung halten wird. Doch viele Spielräume hat sie nicht. Dafür müsste sie die Entscheidung nicht nur einmal, sondern bei jedem kontroversen neuen Gesetz missachten. Und Verwaltung und Sicherheitsdienste müssten dann entscheiden, ob sie diese Gesetze befolgen, obwohl sie wissen, dass sie gesetzeswidrig sind. Es ist kaum denkbar, dass dies passiert. Und dass die Öffentlichkeit das hinnehmen würde.

Schon jetzt ist der Likud massiv angezählt: Seit Kriegsbeginn ist er in allen Umfragen massiv eingebrochen; würde jetzt gewählt, hätte die Koalition keine Mehrheit mehr. Doch vor allem das rechtsnationalistische Wahlbündnis Religiöser Zionismus drängt darauf, die Entscheidung einfach zu missachten, mit der Reform weiterzumachen, während zumindest eine der beiden ultraorthodoxen Parteien in der Regierung das Gegenteil befürwortet. Denn oft ist der Oberste Gerichtshof den Religiösen auch zu Hilfe gekommen.

Oppositionsführer Benny Gantz von der zentristischen Partei Widerstandskraft für Israel und aussichtsreichster Nachfolger von Netanjahu sendet derweil Signale an die Unzufriedenen im Likud: Eine Regierungsbeteiligung sei auch künftig möglich. Die Partei müsse nur Netanjahu austauschen.

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