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»Von Geburt an Außenseiterin«
Katharina Sämann über ihr Kindheitstabu, Tochter eines russischen Kriegsgefangenen zu sein, und das Forschungsprojekt »Trotzdem da!«
Frau Sämann, Sie sind Kind des russischen Kriegsgefangenen Wassilij Koslow, der in Worpswede auf einem Bauernhof als Zwangsarbeiter schuftete. Wann haben Sie das erfahren?
Erfahren habe ich es auf der Straße. Von anderen Kindern, die »Russenkind« hinter mir herschrien. Ich wusste erst nicht, was das bedeutet, es war damals nichts Ungewöhnliches, keinen Vater zu haben. Viele waren gefallen, viele kamen erst Anfang der 50er aus der Kriegsgefangenenschaft zurück. Der Vater meines Cousins, ein deutscher Soldat, wurde vermisst, das war Teil der Normalität nach 1945.
Wie ist Ihre Mutter, Anna Sämann, damit umgegangen, hat sie Sie eingeweiht?
Sie hat keine Details preisgegeben. Ich wusste, dass ich einen russischen Vater habe, und das nur, weil ich eines Tages am Mittagstisch erzählt habe, dass die Mitschüler mich »Russenkind« nennen. Darauf hat die Familie, meine Großeltern, meine Tante, meine Mutter, nicht richtig reagiert. Sie waren nur schockiert, aber das war es dann. Keiner sagte: Komm, jetzt reden wir mal. Da wusste ich, es ist was dran. Dann fragt man als Kind nicht mehr nach – man akzeptiert das als Tabu.
Katharina Sämann (Jahrgang 1944), ist die Tochter von Anna Sämann, einer deutschen Buchhalterin aus Worpswede, und Wassilij Koslow, einem russischen Kriegsgefangenen. Über Jahrzehnte wusste sie so gut wie nichts über die »verbotene Liebe« ihrer Eltern.
Sie wussten nur, dass Sie das Kind eines russischen Kriegsgefangenen waren, mehr nicht? Wann haben Sie mehr erfahren?
Letztlich, als ich 1965 heiraten wollte. Ich war nach meiner Lehre als Au-pair ins Ausland gegangen: 1961 nach Genf, später nach London. Damals wurde man erst mit 21 volljährig, sodass erst mein Großvater mein Vormund war, später meine Mutter. Als ich dann 1965 heiraten wollte, beschlossen meine Großmutter und meine Mutter, mir zu erzählen, wer mein Vater ist, und gaben seinen Namen preis. Das war überfällig, denn mein damaliger Verlobter kam aus der Nähe von Worpswede und wusste von seinen Eltern, dass mein Vater ein russischer Kriegsgefangener war. Als er zu Hause damit herausrückte, dass er mich heiraten wolle, fragte ihn sein Vater: Die willst du heiraten? Von so einem? Das war für mich schockierend. Mit dem Vater meines Mannes habe ich freiwillig kein Wort mehr geredet, und ich wollte auch nicht wieder zurück nach Worpswede, wo ich immer wieder stigmatisiert wurde. Mittlerweile ist das passé. Meine Geschichte interessiert nicht mehr.
Das könnte sich ändern, denn Sie engagieren sich bei »Trotzdem da!«, einem Forschungsprojekt der Gedenkstätte Lager Sandbostel. Das will die Beziehungen zu Kriegsgefangenen oder Zwangsarbeiter*innen in der NS-Diktatur sichtbar machen. Warum engagieren Sie sich?
Ich finde es gut, dass es dieses Forschungsprojekt gibt. Es gibt Klärungsbedarf, kaum Informationen zu den Kindern aus dem »verbotenen Umgang«, und das soll sich mit diesem Projekt und der für Ende 2024 geplanten Wanderausstellung ändern.
Ihre Mutter wurde wegen ihrer Beziehung zu Wassilij Koslow verurteilt. Hat sie jemals versucht, eine Entschädigung zu bekommen? Hat sie geklagt?
Ja, Anfang der 50er Jahre. Meine Mutter wurde zu 15 Monaten Zuchthaus und zu drei Jahren Ehrverlust verurteilt, also zum Verlust des aktiven und passiven Wahlrechts. Sie wurde am 30. April 1945 aus dem Frauenzuchthaus Lauerhof in Lübeck entlassen – ihre Ehrenrechte waren jedoch trotz Kriegsendes nicht automatisch wiederhergestellt.
Wurde sie entschädigt?
Nein, Sie hat eine Absage auf ihren Antrag bekommen. Dieses Dokument ist auch in der Ausstellung in Sandbostel zu sehen, und es spielt eine zentrale Rolle in dem Dokumentarfilm »Für eine Liebe so bestraft«. Der thematisiert den verbotenen Umgang mit Kriegsgefangenen während der NS-Diktatur. Die Filmemacherin Erika Fehse vom WDR fragte Ende 1999 an, ob meine Mutter über ihre Geschichte Auskunft geben würde. Damals wurde über Entschädigungszahlungen für Zwangsarbeiter*innen diskutiert, und meine Mutter hat vor der Kamera zum ersten Mal detailliert über ihre Beziehung zu Wassilij Koslow, die vom Herbst 1943 bis zum September 1944 währte, berichtet. Nach Ende der Dreharbeiten erhielten wir vom Filmteam die zentralen Dokumente: das Urteil, den Nachweis des Zuchthauses und einiges mehr. Auf Grundlage dieser Belege hat meine Mutter dann eine kleine Entschädigung über 1000 oder 1500 Euro erhalten. Für sie war das sehr wichtig, denn sie wurde rehabilitiert. Darum ging es ihr.
Ich habe den Eindruck, dass der Film ein Wendepunkt in Ihrem Verhältnis zu Ihrer Mutter war – ist das richtig?
Ja, es gab ein Davor und ein Danach. Nun konnte ich Fragen stellen, und meine Mutter hat geantwortet. Sie hat fortan frei über die einzige Beziehung in ihrem Leben geredet. Ich war beeindruckt vom späten Coming-out meiner Mutter. Sie lebte schließlich in Worpswede, kannte noch Leute, die diese Jahre miterlebt haben, und sie hat es trotzdem öffentlich gemacht.
55 Jahre nach Ihrer Geburt …
Ich hatte zu meiner Mutter lange ein schwieriges Verhältnis, habe immer vermutet, dass sie mir nicht alles erzählt. Daher bin ich der Dokumentarfilmerin sehr dankbar, dass sie letztlich dafür gesorgt hat, dass meine Mutter ihre Geschichte preisgegeben hat. Diese Generation redete weder über ihre Geschichte noch über ihre Gefühle.
Wurden Ihre Eltern denunziert? Und was ist aus Wassilij Koslow geworden?
Ja, sie wurden denunziert, und mein Vater wurde nach einer Gegenüberstellung mit meiner Mutter in Sandbostel nach Bremen verlegt. Meine Mutter hatte zuvor behauptet, ein deutscher Soldat sei mein Vater, aber bei der Gegenüberstellung gab sie den Kontakt zu. Im Urteil steht letztlich, dass sie schwanger von einem deutschen Soldaten gewesen sei, aber dann eine Beziehung zu einem russischen Kriegsgefangenen hatte.
Gibt es weitere Spuren von Ihrem Vater?
Eine Karteikarte, die ein deutscher Historiker, Andreas Hilger, in einem Moskauer Archiv fand. Wassilij Koslow ist in Russland ein Dutzendname wie Peter Müller, deshalb war es schwer, in den Akten etwas zu finden. Es gab mehr als 200 Koslows, aber schließlich einen mit dem Querverweis Sandbostel. Auf dieser Karte steht, dass er im Dezember 1944 im Untersuchungsgefängnis in Bremen übergeben wurde. Da endet die Spur meines Vaters, denn Anfang 1945 fiel eine Bombe auf das Gefängnis und mit Kriegsende wurden weitere Unterlagen vernichtet.
Ihre Mutter hat 1991 den Kontakt zum ehemaligen Kriegsgefangenenlager Stalag XB Sandbostel aufgenommen, Sie haben ihn fortgeführt. Wie wichtig ist Ihnen der Kontakt zu Menschen mit einer ähnlichen Biografie?
Wichtig. Dazu hat das Coming-out meiner Mutter entscheidend beigetragen, aber auch mein Umzug vor zwölf Jahren nach Worpswede. Ab da hatte ich als Rentnerin mehr Zeit – ich habe den Kontakt nach Sandbostel intensiviert, spreche hin und wieder als Zeitzeugin mit Schulklassen.
Wie hat Sie der russische Vater geprägt, den Sie nie kennenlernen durften? Wer ist Katherina Sämann?
Ich habe mich immer als Außenseiterin gefühlt. Ich hatte nie das Gefühl, ich könnte mich hier entwickeln. Ich hatte Probleme in der Schule, die Klassenlehrerin war fürchterlich, und jedes Jahr musste ich aufstehen und wurde gefragt, wer mein Vater war. Die anderen Kinder waren viel integrierter als ich – so habe ich es empfunden. Heute habe ich einen guten und intensiven Kontakt zu den sogenannten Distelblüten-Russenkindern in Leipzig. Im Radio hatte ich über das Projekt »Children Born Of War« der Uni Leipzig gehört. Jetzt nehme ich regelmäßig an den Treffen teil, denn das sind die ersten Menschen, bei denen ich den Eindruck habe, mit ihnen etwas zu teilen. Es sind Besatzerkinder, Kinder russischer Soldaten aus sogenannten Bratkartoffel-Beziehungen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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