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- Provenienzforschung in Leipzig
»Die Museen haben bereitwillig die Hand aufgehalten«
Die Provenienzforscherin Ulrike Saß im Gespräch über Raubkunst, Opportunismus und jüdisches Engagement am Museum der bildenden Künste Leipzig
Dr. Ulrike Saß, Sie sind seit Juni 2022 die erste fest angestellte Provenienzforscherin am Museum der bildenen Künste Leipzig (MdbK). Diesen Mittwoch bieten Sie erstmals eine Führung zum Thema Raubkunst im Bestand des Museums an. Können Sie unserer Leserschaft schon einmal einen kleinen Einblick in Ihre Arbeit geben?
Provenienzforschung bedeutet erst einmal, die Eigentums- und Besitzgeschichte von Kunstwerken zu untersuchen. Das betrifft in meinem Fall die ganze Sammlung des MdbK, der Schwerpunkt liegt jedoch auf Objekten, die während der Zeit des Nationalsozialismus, der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) und der DDR zu uns gekommen sind. Zudem untersuche ich auch die Verluste des MdbK und setze mich kritisch mit der Geschichte des Hauses auseinander. Dabei komme ich auch mit der Regional- und Stadtgeschichte in Berührung, mit den Kunsthandlungen und Sammlern, die es in Leipzig gibt und gab.
Ulrike Saß ist seit Juni 2022 Provenienzforscherin am Museum der bildenden Künste in Leipzig. Zuvor war sie von 2018 bis 2022 Juniorprofessorin für kunsthistorische Provenienzforschung an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität in Bonn. Saß studierte Kunstgeschichte und Klassische Archäologie in Leipzig und Bologna. 2016 wurde sie mit einer Arbeit zur Galerie Gerstenberger und dem Kunsthändler Wilhelm Grosshennig in Leipzig promoviert.
Stimmt mein Eindruck, dass die Provenienzforschung in Deutschland Fahrt aufgenommen hat?
Nun ja, das Interesse an der Provenienzforschung verläuft in Wellen: Mal wird viel geforscht und gefördert, dann schläft das Ganze für eine Weile ein, dann gibt es einen kleinen Skandal und das Interesse ist wieder da – und so weiter. In Bezug auf die während der NS-Zeit unrechtmäßig entzogenen Kunstwerke war die Washingtoner Erklärung von 1998 aber auf jeden Fall ein Meilenstein für die Provenienzforschung. Darin erklären 43 Staaten und 13 nichtstaatliche Organisationen in einer nicht bindenden Übereinkunft, von den Nazis geraubte Kunstwerke identifizieren und mit den Erben der rechtmäßigen Eigentümer eine »gerechte und faire Lösung« finden zu wollen.
Aus welcher Zeit stammen die meisten unrechtmäßig entzogenen Kunstwerke im Bestand des MdbK?
Tatsächlich würde ich schätzen, dass es mehr Kunstwerke bei uns im Bestand gibt, die einen DDR- oder SBZ-Entzugskontext haben als solche, die während des Nationalsozialismus entzogen wurden. Diese jüngere Vergangenheit ist auch noch nicht so sehr aufgearbeitet wie die NS-Zeit. Das liegt auch daran, dass es zwar eine gesetzliche Grundlage dafür gibt, Kunstwerke, die im Kontext der Bodenreform Privatpersonen entzogen wurden, zurückzugeben – allerdings nicht für solche, die durch andere Prozesse während der Zeit der DDR entzogen wurden.
Was ist mit Kunstwerken der Klassischen Moderne, die von den Nazis als »Entartete Kunst« diffamiert und aus den Museen, die sie beherbergten, beschlagnahmt wurden?
Um diese Kunstwerke geht es momentan bei uns gar nicht so viel. Man hat sich darauf geeinigt, dass diese Objekte, von denen viele ins Ausland verkauft wurden, dort bleiben, wo sie sind – weil der deutsche Staat sie damals ja selbst beschlagnahmt hat. In diesem Zusammenhang finde ich es wichtig, auf den Unterschied zwischen der von den Nazis so genannten »Entarteten Kunst« und NS-verfolgungsbedingt entzogener Kunst hinzuweisen. Das wird häufig durcheinandergebracht.
Können Sie diesen Unterschied kurz erläutern?
»Entartete Kunst« nannten die Nazis Kunstwerke der Klassischen Moderne, die sie wegen ihrer avantgardistischen Form verunglimpften. Die NS-verfolgungsbedingt entzogene Kunst umfasst hingegen alle möglichen Epochen und Stile – es geht überwiegend darum, dass diese Kunst mal im Besitz einer jüdischen Familie war, die in der Zeit ab 1933 verfolgt wurde und der sie in diesem Zusammenhang entzogen wurde.
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Einige Kunstwerke fallen aber in beide Kategorien, oder?
Ja, aber das sind gar nicht so viele. Zwar hatten einige Kunstsammlerinnen und Kunstsammler des beginnenden 20. Jahrhunderts auch Interesse an der damaligen zeitgenössischen Kunst, also der Klassischen Moderne, aber allgemein haben die Sammler, die hauptsächlich aus dem Großbürgertum kamen, auch großbürgerliche Kunst gesammelt. Und das waren zu einem großen Teil auch Werke der Romantiker, akademische Genre-Malerei etc. Die Sammler waren ja nicht immer modern und avantgardistisch.
Wie genau wurden damals die Kunstwerke ihren jüdischen Eigentümern entzogen?
Die offensichtlichste Variante ist die Beschlagnahmung: NS-Funktionäre gingen in einen Privathaushalt und beanspruchten Kunst, weil die Besitzer als jüdisch verfolgt wurden. Als NS-verfolgungsbedingt entzogen gelten aber auch Kunstwerke, die beispielsweise im Kontext der Flucht verkauft werden mussten, um etwa die Reichsfluchtsteuer oder das Schiffsticket nach Amerika zu bezahlen. Oder auch solche, die ihre Besitzer schlicht nicht mitnehmen konnten, weil sie etwa nur mit einem Koffer geflohen sind, und die danach in die Hände der Nazis gelangt sind.
Die Rolle der Kunsthändler, die dann mit den Werken gehandelt haben, war ambivalent: Einerseits haben sie vielleicht einen großen Teil der Kunst vor der Zerstörung bewahrt, andererseits bereicherten sie sich auf der Grundlage der Entrechtung ihrer jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger.
Die Provenienzforschung ist nicht dazu da, eine moralische Keule zu schwingen gegen die Personen, die damals gelebt und sich unterschiedlich in dieser menschenverachtenden Diktatur verhalten haben. Aber natürlich ist es wichtig, diese Prozesse des Entzugs aufzuarbeiten, und dabei beispielsweise auch aufzuzeigen, was opportunistisches Verhalten war. Das gilt übrigens auch in Bezug auf die Museen. Deren Leitungen wussten ja von den Entzügen und der Emigration der Sammler – und haben trotzdem bereitwillig die Hand aufgehalten. Die Beschäftigung mit dieser Vergangenheit bietet auch die Möglichkeit, darüber nachzudenken, wie man es besser machen kann.
Manche Kunsthandlungen, die während der Nazi-Zeit mit beschlagnahmter Kunst gehandelt haben, gibt es ja noch heute – zum Beispiel die Kunsthandlung C. G. Boerner, die früher in Leipzig ansässig war und heute in Düsseldorf und New York. Arbeiten auch diese Institutionen ihre Geschichte auf?
Es wäre schön, wenn sie’s tun würden – aber das sind ja private Personen und Institutionen, die man nicht dazu verpflichten kann. Es ist also sehr unterschiedlich. Einige Kunsthandlungen haben ihre Geschichte aufgearbeitet – das Auktionshaus Weinmüller, das in München und Wien ansässig war, ist das bekannteste Beispiel aus der Forschung. Was die Kunsthandlung C. G. Boerner angeht: Die haben noch die ganzen Archivmaterialien, und dazu entsteht auch etwas, aber es gibt noch keine umfänglichen Publikationen. Allgemein können diese Prozesse der wissenschaftlichen Aufarbeitung auch sehr lange dauern.
Derzeit ist Raubkunst aus Afrika ein großes Thema in der bundesdeutschen Politik. Geht es darum auch in Ihrer Forschung am MdbK?
Prinzipiell fällt das natürlich auch in den Bereich der Provenienzforschung, aber meines Wissens nach haben wir solche Kunstwerke gar nicht im Bestand, daher sind sie auch nicht Bestandteil meiner Arbeit. Allerdings gibt es Kunstwerke im Bestand des MdbK, die kolonialistische Aussagen beinhalten – und damit setzen wir uns auch auseinander.
Woran arbeiten Sie gerade?
Unter anderem beginne ich dieses Jahr ein Projekt mit dem Titel »Sichtbarmachen. Spuren jüdischen Engagements im MdbK«. Dafür arbeite ich mit der Publizistin Sharon Adler und der Künstlerin Shlomit Lehavi zusammen. Wir wollen gemeinsam auf die Suche gehen nach Personen, die der jüdischen Religionsgemeinschaft angehört haben oder nach 1933 als jüdisch verfolgt wurden und die mäzenatisch für das Museum tätig waren. Das ist bisher tatsächlich noch nicht aufgearbeitet worden. Daran anschließend plane ich 2026 eine große Ausstellung, in der es um Kunstsammlungen jüdischer Familien in Leipzig gehen wird. Ich arbeite mich also gerade an etwas Umfänglicheres heran. Das ist das Schöne an dieser unbefristeten Stelle: Man kann länger planen, eigene Projekte entwickeln und dauerhafte Kooperationen mit anderen Institutionen in der Stadt eingehen.
Seit 2019 ist der zweite Mittwoch im April der Internationalen Tag der Provenienzforschung. Haben Sie dafür schon etwas geplant?
Dieses Jahr möchte ich zu diesem Anlass die Leipzigerinnen und Leipziger einladen, mit mir über Kunstwerke zu sprechen, die sie besitzen und deren Herkunft sie möglicherweise nicht kennen – vielleicht finden wir gemeinsam etwas heraus.
Ulrike Saß’ Führung »Raubkunst im MdbK?« zur Provenienzforschung in der Sammlung des MdbK beginnt am 17. Januar um 18 Uhr und ist kostenlos.
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