- Wirtschaft und Umwelt
- Arbeitszeitverkürzung
Zeit und Wohlstand für alle
Ein Gespräch über den Vier-Stunden-Tag und feministische Potenziale
Die Vier-Stunden-Liga fordert eine radikale Arbeitszeitverkürzung. Warum?
Sebastian Müller: Wir erleben multiple gesellschaftliche Krisen. Wenn wir die meistern wollen, müssen wir grundsätzlich danach fragen, wie wir produzieren und arbeiten wollen. Es geht darum, welchen Wohlstand wir meinen. Was nützt uns mehr materieller Reichtum, wenn wir immer häufiger an Stress leiden und zugleich die Natur zerstören? Was wir gewinnen können, ist Gesundheit, mehr Zeit für Freund*innen, Familie, demokratische Mitbestimmung und den Blick dafür, wie eine nachhaltigere Gesellschaft aussehen könnte. Darum fordern wir den Vier-Stunden-Tag bei vollem Lohn- und Personalausgleich, der vom Kapital bezahlt werden soll.
Friederike Beier: Auch wenn ich zurückhaltend bin, was die politische Forderung betrifft, kann man aus wissenschaftlicher Sicht sagen: Lange Lohnarbeitstage führen zu einer größeren Geschlechterungleichheit, da sie zur ungerechten Verteilung der Haus- und Sorgearbeit beitragen. In Deutschland leisten Frauen durchschnittlich davon fast eineinhalb Stunden mehr am Tag, umgerechnet 528 Stunden im Jahr. Das liegt an patriarchalen Einstellungen, aber auch an den ökonomischen Verhältnissen. Männer verdienen in ihren Berufen meist mehr. Familien entscheiden dann pragmatisch: Wenn Frauen in Teilzeit gehen und die Haus- und Sorgearbeit übernehmen, ist das Familieneinkommen höher. Der Vier-Stunden-Tag kann zu mehr Geschlechtergerechtigkeit führen, weil es diejenigen entlastet, die bereits jetzt die Sorgearbeit leisten. Und alle anderen hätten dafür mehr Kapazitäten.
Sebastian Müller (36) ist Philosoph und hat die Sektion der 4-Stunden-Liga in Berlin mitgegründet. Das bundesweite Bündnis gibt es seit 2017 und setzt sich für eine radikale Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn- und Personalausgleich ein.
Gewerkschaften wie die IG Metall kämpfen für die Vier-Tage-Woche. Warum reicht Ihnen das nicht?
Müller: Wir sind glücklich darüber, dass das Thema Arbeitszeitverkürzung bei den Gewerkschaften wieder auf der Tagesordnung steht und unterstützen ihre Kämpfe. Aber für uns ist es wichtig, dass sowohl Personal- als auch Lohnausgleich durchgesetzt werden. Das ist bei manchen gewerkschaftlichen Forderungen nicht der Fall. Und viele ihrer Modelle sind darauf ausgelegt, den Status quo beizubehalten. Das zeigt sich bei der ökologischen Krise: Wenn bei einer Vier-Tage-Woche genauso viel produziert wird wie bisher, bleibt das Grundproblem bestehen.
Beier: Zwar gibt es auch in den Gewerkschaften zunehmend Forderungen nach einer feministischen Zeitpolitik, etwa bei der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft. Aber viele gehen immer noch vom Ernährer-Hausfrau-Modell aus. Danach soll es einen Lohn für die ganze Familie geben. Solche Modelle verbessern die Situation nicht grundlegend. Hier ist eine feministische Kritik wichtig.
Dr. Friederike Beier (39) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der Freien Universität Berlin. Sie forscht zu feministischen Theorien und Zeitpolitiken sowie zu sozialer Reproduktion.
Inwiefern?
Beier: Bei der Vier-Tage-Woche fällt nur ein Arbeitstag weg. Aber die Kinder müssen jeden Tag aus der Kita abgeholt werden und die Pflege von Menschen findet auch täglich statt. Hinzu kommt, dass es in der Gesellschaft eine Norm darüber gibt, wann die richtige Zeit sein soll, um Kinder zu bekommen oder zu heiraten. Das geht an vielen queeren Lebensrealitäten vorbei. Aber es geht auch um eine intersektionale Perspektive: Branchen mit prekären und informellen Arbeitsbedingungen werden bei den gewerkschaftlichen Modellen oft nicht berücksichtigt. Menschen, die etwa rassistische Diskriminierung erfahren, müssen oft viel mehr arbeiten, weil sie weniger verdienen. Auch darum muss es um einen vollen Lohn- und Personalausgleich gehen, der branchenübergreifend umgesetzt wird.
Wie soll das aussehen?
Beier: Es bräuchte allgemeine politische Regelungen, vergleichbar mit der maximalen Wochenarbeitszeit. Wenn man das nur über Tarifverträge macht, hätte ich die Befürchtung, dass vor allem privilegierte Arbeiter*innen in akademischen Berufen davon profitieren. Dort lässt sich die Arbeitszeit oft flexibler verkürzen. Das ist in der Pflege, in der Kita oder an der Supermarktkasse anders. Wichtig ist dabei auch auf dem Zettel zu haben, dass manche gar nicht arbeiten können oder dürfen, wie geflüchtete Menschen.
Müller: Auf jeden Fall wäre es ein Weg, das gesetzlich festzuschreiben. Das würde ich auch befürworten. Aber es geht uns nicht darum, Politikberatung zu machen. Wir wollen an Arbeitskämpfe anknüpfen und sie mit feministischen und ökologischen Bewegungen verbinden. Damit hätte man auch ein stärkeres Druckmittel, als wenn Einzelgewerkschaften das in ihren Branchen verhandeln.
Auf dem Weltmarkt scheppert es und die deutsche Wirtschaft befindet sich in einer Rezession. Da klingt die Forderung nicht gerade realistisch.
Müller: Gegen gewerkschaftliche Kämpfe wird von der Arbeitgeberseite immer wieder vorgebracht, dass sie den Untergang der Wirtschaft nach sich ziehen würden. Das war auch bei der Debatte um den Mindestlohn so und als der Acht-Stunden-Arbeitstag eingeführt wurde. Das ist Teil von einem Klassenkampf von oben. Alle noch so kleinen Schritte werden für absurd erklärt. Wir wollen über etwas anderes diskutieren als darüber, ob es dem Standort gut geht.
Beier: Auch in Krisen profitiert das Kapital. Das hat man in der Corona-Pandemie gesehen, in der Unternehmen Milliardengewinne eingestrichen haben. Aber klar, es liegt in der Natur des Kapitalismus, dass Mehrwert produziert werden muss und Menschen länger arbeiten müssen, als das Produkt ihrer Arbeit wert ist. Daher braucht es den Druck von verschiedenen Kämpfen und Bewegungen.
Die Debatte scheint nicht auf der Tagesordnung zu stehen. Eher erhalten rechte Krisenideologien Zuspruch.
Müller: Zweifellos gibt es einen Rechtsruck, der mit politischen Forderungen nach einer Stärkung des eigenen Standorts einhergeht. Aber gleichzeitig zeigen Umfragen, dass sich Leute eine Arbeitszeitverkürzung wünschen. Da gibt es einen Widerspruch. Und ich denke, es muss darum gehen, den Leuten etwas anzubieten, was nah an ihrer Lebensrealität ist.
Beier: 81 Prozent der Vollzeiterwerbstätigen wünschen sich eine Vier-Tage-Woche. Mehr über die eigene Zeit zu verfügen, führt nachweislich zu mehr Lebenszufriedenheit. Aber man muss auch sagen, dass Zeitwohlstand für alle und eine Gesellschaft, die nach menschlichen Bedürfnissen ausgerichtet ist, im Kapitalismus nicht zu haben sind. Das zeigt sich an den Gesundheits-, Sorge- und ökologischen Krisen. Wir sollten uns also gesamtgesellschaftlich darüber unterhalten, wie wir leben, lieben und arbeiten wollen.
Am 18. Januar diskutieren Friedrike Beier und Sebastian Müller auf einer Podiumsveranstaltung gemeinsam mit Andrea Ypsilanti (Institut Solidarische Moderne) und Evelyn Berger (DGB) über die Forderung nach einer Arbeitszeitverkürzung in Zeiten von Krisen und Fachkräftemangel. Mehr zur Veranstaltung hier.
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