- Kultur
- 100. Todestag von W.I. Lenin
Lenin: Es kann nur einen geben
Wladimir versus Wladimir: Wie Präsident Putin das Gespenst des Bolschewiken Lenin loswerden möchte
Während einer Sitzung des Rates für Wissenschaft und Volksbildung beim Präsidenten der Russischen Föderation am 21. Januar 2016 – der 92. Todestag Lenins war nicht der Anlass der Veranstaltung – wies Wladimir Putin unter anderem darauf hin, dass es Lenins Ideen und Politik waren, die zur Zerstörung Russlands geführt hätten. Daher sei für Russen auch der damals bevorstehende 100. Jahrestag der Revolution 1917 kein Grund zum Feiern.
Präsident Wladimir hatte sich in seiner Kampagne gegen den Bolschewiken Wladimir dafür entschieden, beider Vornamen wortwörtlich zu nehmen, als ein wahrer Kämpfer für die nationale Einheit: »Wladej mirom« bedeutet »Beherrsche die Welt«. Statt des Mausoleums für Lenin sollte seiner Ansicht nach auf dem Roten Platz in Russlands Hauptstadt ein Denkmal für Fürst Wladimir stehen. Doch 2016 war die Zeit noch nicht reif, eine Streichung der Erinnerungsstätte an den Begründer des Sowjetstaates aus der Weltkulturerbe-Liste zu riskieren. Seit 2017 ist das vom russischen Meinungsforschungsinstitut Levada dokumentierte Stimmungsbild bezüglich Lenins Mausoleum unverändert. Laut Erhebung des im März jenes Jahres zu »ausländischen Agenten« erklärten Zentrums sprechen sich 45 Prozent der Moskauer für eine Umbettung der mumifizierten Leiche auf den Wolkowskoje-Friedhof in Petersburg aus, wo sich das Familiengrab der Uljanows befindet; 42 Prozent sind dagegen. Im Umland der Hauptstadt halten sich Pro und Kontra ebenfalls die Waage.
Putin hält an seiner Ablehnung der von Lenin verfolgten Politik fest: Der »von Deutschland finanzierte Bolschewik« habe die Axt an die Wurzel des stolzen tausendjährigen Russischen Reiches gelegt; die von jenem nach der Eroberung der Macht verkündeten föderativen Prinzipien des Staatsaufbaus seien weitaus mehr als nur ein Fehler gewesen, deklarierte er im Dezember 2019 unter Hinweis auf den Zerfall der Sowjetunion 1991. Damals sah sich der Regierungssprecher noch genötigt, darauf hinzuweisen, dass es sich hierbei um die persönliche Meinung des Präsidenten handele und es keinen Grund gebe, sich darüber aufzuregen.
Gennadi Sjuganow, Vorsitzender des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation (KPRF), hatte lange mit einer Entgegnung auf Putins Ausfälle gewartet. Ohne den Adressaten seiner schließlich doch abgegebenen Erwiderung zu nennen, betonte er, dass Lenin ein genialer Politiker und Staatsmann gewesen sei, denn er habe, wie auch sein Testamentsvollstrecker Stalin, stets die Interessen des werktätigen Volkes im Blick gehabt.
Der Bund der Architekten Russlands sah in dem seinerzeitigen Schlagabtausch eine Chance, Ideen für eine Umwidmung des Mausoleums in ein Museum für dessen Erbauer zu unterbreiten. Samt Lenins Mumie sollte die Nekropole an der Kremlmauer verschwinden und der Rote Platz endgültig in einen Festplatz umgewandelt werden. Im September 2020 wurde ein entsprechender Wettbewerb ausgeschrieben.
Wieder war es der Vorsitzende der KPRF, der protestierte. Nach drei Tagen zog der Bund der Architekten die Ausschreibung zurück. Das ändert aber nichts daran, dass der Rote Platz nach wie vor nicht nur als Paradeplatz, sondern auch als Ort für Volksfeste und Sportwettkämpfe genutzt wird. Zum Ärger der Kirche, für die Friedhöfe Orte der Stille waren und bleiben sollen, also auch für die an der Kremlmauer verewigten Toten.
In den vom Levada-Zentrum durchgeführten Meinungsumfragen hat Stalin längst Lenin von Platz 1 der wirkmächtigsten Persönlichkeiten in der Geschichte Russlands verdrängt. Kein Wunder, denn auf Lenins Konto gingen laut offizieller Agitation auch die Niederlage der heldenhaft kämpfenden russischen Soldaten an den Fronten des Ersten Weltkrieges durch das »Dekret vom Frieden« im November 1917 und das Waffenstillstandsabkommen von Brest-Litwosk im März des folgenden Jahres mit Kriegsgegner Deutschland sowie die »Erfindung der Ukraine« mit der Gründung der UdSSR. Stalin hingegen könne als Sieger im Großen Vaterländischen Krieg und Bewahrer des russischen Imperiums gefeiert werden.
Ein Spiegelbild des vom Präsidenten propagierten »Geschichtsbildes« sind die Vorworte zu den in Russland herausgegebenen Neuauflagen der in den 30er Jahren veröffentlichten »Stenogramme« der Moskauer Schauprozesse. Was die Staatssicherheitsorgane damals noch vereitelt hätten, habe sich im Ergebnis der Perestroika durchgesetzt, so die Überzeugung vieler Russen. Gemeint sind die angeblich bewusste Zerstörung der UdSSR und der Ausverkauf des Landes an den Westen.
Doch zurück zu Lenin: Die KPRF bereitet sich unter der Losung »In die Zukunft mit Lenin« auf die Wahlen vor, die im März in der Russischen Föderation stattfinden. Putin (an der Wiederwahl besteht kein Zweifel) bleibt bis Mai 2030 im Amt. Vielleicht wird dann Wirklichkeit, was auf einer russischen Satireseite im Internet zu lesen war: Die Ministerin für Kultur der Russischen Föderation unterschreibt einen Erlass über die Übergabe des Lenin-Mausoleums an die Russisch-Orthodoxe Kirche, womit es in den Rang eines geistlichen Denkmals erhoben werde. Schließlich sei der getaufte Uljanow nie exkommuniziert worden.
Der Berliner Historiker Dr. Wladislaw Hedeler, geboren 1953 in Tomsk, ist ein international renommierter Kommunismusforscher und Autor zahlreicher Monografien und Dokumenteneditionen zur Komintern, sowjetischen Geschichte und russischen Gegenwart; 2023 erschien von ihm der Band »Unterwegs in Jelzins und Putins Russland«.
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