Im Westjordanland droht die Situation zu explodieren

Die Menschen leiden unter der Wirtschaftskrise und den regelmäßigen Razzien des israelischen Militärs gegen angebliche Terrorzellen

  • Mirco Keilberth, Ramallah
  • Lesedauer: 4 Min.

Während die Kämpfe im Gazastreifen weitergehen, versucht die israelische Armee, eine Eskalation der Lage im besetzten Westjordanland mit Verhaftungen zu verhindern. Zuletzt wurden am Samstag mehrere Jugendliche festgenommen. Israelische Truppen haben ihre Patrouillen in dem über 100 Kilometer langen Gebiet von Ostjerusalem bis zur Kleinstadt Dschenin verstärkt. Israels Generalstabschef Herzi Halevi warnte kürzlich vor einer dritten Intifada und dem Versuch der Hamas, den Konflikt auf das Westjordanland auszuweiten.

»Vor allem in den Flüchtlingslagern von Hebron, Tulkarem und Dschenin greifen israelische Spezialeinheiten immer wieder angebliche Terrorzellen an«, klagt ein Vertreter des sogenannten Widerstands in Ramallah. Wie viele auf palästinensischer Seite will er sich beim Gespräch mit dem »nd« nicht zu erkennen geben. Den Tod von fünf Palästinensern bei einem Luftangriff auf ihren Wagen im Flüchtlingslager Balata am Mittwoch sieht er als Schwäche »der Besatzer«. Die Brutalität des Vorgehens würde der Hamas in die Hände spielen, sagt er vieldeutig.

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»In der Stadt Tulkarem werden fast täglich Menschen bei Razzien der israelischen Armee verletzt«, bestätigt ein Mitarbeiter der Hilfsorganisation »Roter Halbmond«. Von Ramallah aus, dem rund zehn Kilometer nördlich von Jerusalem gelegenen Verwaltungszentrum der palästinensischen Autonomiebehörde, wird der Transport der Verletzten in die wenigen funktionieren Krankenhäuser organisiert.

Das milde Wetter am Wochenende nutzten viele der 40 000 Einwohner für Spaziergänge und Treffen mit Freunden. Mit gedämpfter Stimme wurden in den Cafés vor allem die wirtschaftlichen Folgen des Krieges in Gaza diskutiert. Das scheinbar normale Straßenbild täuscht. Wie polarisiert die Lage ist, kann man in den Gesichtern ablesen. »Über 80 000 Palästinenser aus dem Westjordanland arbeiten in Jerusalem oder anderen Teilen Israels«, sagt der Ingenieur Samir Ghanim. Der 65-Jährige spielt mit Freunden unweit der griechisch-orthodoxen Kirche von Ramallah Karten. »Schauen sie sich um, fast alle hier im Café haben seit dem 7. Oktober ihre Arbeitserlaubnis verloren. Wir leben jetzt alle von unserem gesparten Geld.«

Die Maßnahmen der israelischen Behörden machen viele in Ramallah wütend. Das Schweigen und die Untätigkeit der eigenen Behörden sorgt für Rätselraten. »Wir wissen nicht, wie es weiter geht«, sagt Ghanim. »Ramallah ist mit Ost-und Westjerusalem wirtschaftlich eng verknüpft«, sagt ein anderer Gast im Café, der nicht namentlich erwähnt werden möchte. »Hier hat doch niemand den Angriff der Hamas bejubelt oder zu Gewalt gegen Israelis aufgerufen. Dennoch werden wir alle pauschal bestraft.«

Hinter vorgehaltener Hand halten die meisten in der Gesprächsrunde im Café »Sukkariya« die Sicherheitskräfte von Mahmud Abbas für Erfüllungsgehilfen der israelischen Besatzer. Der Präsident der Automiebehörde hat seit dem 7. Oktober an Popularität verloren. »Gäbe es jetzt hier Wahlen, könnte die Hamas vielleicht sogar wie damals in Gaza die Mehrheit der Stimmen erhalten«, sagt einer.

Über 40 Prozent des Westjordanlandes kontrollieren die Sicherheitskräfte der Autonomiebehörde, der Rest untersteht der israelischen Armee. Für Palästinenser gilt israelisches Militärrecht. In Ostjerusalem und den wie Sperrriegel entlang der großen Straßen gebauten Siedlungen treten jüdischen Siedler in aller Öffentlichkeit oft mit geschulterten Schnellfeuergewehren auf.

»Die stetige Expansion der Siedlungen macht eine Zweistaatenlösung doch schon jetzt fast unmöglich«, sagt Jussuf Al-Liftawi. Der 65-jährige hat einst als Berater für die Autonomiebehörde gearbeitet. Nun hält er sich von der Politik lieber fern. »Ich fürchte vor allem eine Eskalation an der Grenze zum Libanon. Ein monatelanger regionaler Krieg mit der Hisbollah würde im Westjordanland eine nie dagewesene Wirtschaftskrise auslösen«, sagt er wenig optimistisch.

An einer Straßenlaterne im Zentrum von Ramallah hängt ein Plakat mir den Fotos zweier Teenager. Die beiden Palästinenser hatten vor zwei Jahren israelische Soldaten angriffen. Wenige Monate später stürmte eine Spezialeinheit das dicht bebaute Zentrum und tötete den mutmaßlichen Attentäter, in den Augen vieler hier nun ein Märtyrer.

»Auch wenn man in Ramallah so gut wie keine israelischen Militärfahrzeuge sieht«, sagt der Vertreter der Autonomiebehörde. »Sie haben ihre Geheimdienstinformationen über jeden und alles. Niemand wagt zur Zeit auch nur einen Finger gegen die Besatzung zu rühren.«

Doch dort, wo die Jugendlichen auch vor dem 9. Oktober kaum eine wirtschaftliche Perspektive hatten, in Nablus, Tulkarem oder Dschenin, droht die Lage zu kippen. Täglich liefern sich Bewohner der dortigen Flüchtlingscamps Auseinandersetzungen mit den schwer gepanzerten Armeepatroullien. In Dschenin seien auch radikale Gruppen aktiv, ist man sich in Ramallah sicher. »Eine Zweistaatenlösung müsste gegen Extremisten auf beiden Seiten durchgesetzt werden«, warnt der ehemalige Funktionär der Autonomiebehörde. »Aber wer ist wirklich bereit, uns dabei zu helfen?«

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