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Der stille Krieg im Norden Israels
Die meisten Einwohner der Grenzstadt Schlomi sind vor den Raketen aus dem Libanon geflohen
Den Ausnahmezustand im Norden Israels kann man bereits bei Ankunft am Bahnhof von Naharija spüren. Der Zug aus Tel Aviv ist fast leer, die Hälfte der Passagiere trägt Uniform. Wie überall im Land haben sie eine automatische Waffe geschultert. Doch die gepackten Armeerucksäcke verraten, dass sie auf dem Weg zu ihrem Einsatz an der Grenze zum Libanon sind. Die Passanten in Naharija blicken ernster als die in Jerusalem oder Tel Aviv.
Seit dem 7. Oktober schlagen in der Grenzregion immer wieder Raketen der Hisbollah ein. Die schiitische Bewegung ist im nördlichen Nachbarland die am besten organisierte politische Partei; ihre angeblich 100 000 Mann starke Milizenarmee kontrolliert das Grenzgebiet zu Israel. Aus seiner Strategie gegenüber dem verhassten jüdischen Staat macht ihr Anführer Hassan Nasrallah keinen Hehl. Mit dem Beschuss des Grenzgebiets wolle man große Teile der israelischen Armee im Norden binden und so die befreundete Hamas unterstützen, so der Geistliche, der als enger Partner des Regimes in Teheran gilt.
Nach dem Einschlag mehrerer Hundert Raketen haben mehr als 70 000 Israelis ihre Häuser verlassen. In Naharija warten sie auf ein Ende des Konflikts. Sie wissen: Sollte die Lage eskalieren, ist man auch hier, rund 15 Kilometer von der Grenze, nicht sicher. Denn nach Meinung israelischer Experten verfügt die Hisbollah über ein Arsenal von modernen Raketen, die sogar Tel Aviv in der Landesmitte erreichen können.
»Hier sind lange keine Raketen heruntergekommen, aber man weiß ja nie«, sagt die Verkäuferin in einem Café neben dem Bahnsteig von Naharija und zuckt mit den Schultern. Nach dem Schock über den ersten Konflikt im Norden Israels seit fast zwei Jahrzehnten ist der Alltag zurück.
Um in den Grenzort Schlomi zu gelangen, muss man einen Taxifahrer überreden, Busse fahren nicht mehr. 7000 von 9000 Einwohnern haben die Siedlung am Fuße einer Bergkette verlassen. »Viele sind bei Familienangehörigen untergekommen, die Kosten für ein Apartment oder Hotelzimmer übernimmt die Regierung«, sagt Luchy Josef. Er ist Vorsitzender des Lokalrates und schaut vor dem Bürgermeisteramt in den Himmel. Ein lautes Summen verrät eine Drohne am Himmel. Josef beruhigt: »Es ist unsere Drohne, damit sucht die Armee nach versprengten Hisbollah-Einheiten.«
Die Straßen von Schlomi sind menschenleer. Mit einem kleinen Kernteam hält Josef die in ganz Israel verteilt lebenden Bewohner über die Lage auf dem Laufenden. »Seit Corona sind wir eine Smart City«, sagt der 60-jährige Familienvater. Über eine von einem Start-up entwickelte App könnten die Bürger sämtliche Behördengänge per Handy erledigen, erklärt er stolz. »Über die App kann ich alle Bürger an ihrem Handy erreichen oder den Erhalt der Unterstützungszahlungen prüfen.«
Die Neubausiedlungen von Schlomi liegen keine 300 Meter von der Grenze zum Libanon entfernt. Oben auf dem Berg soll eine Basis mit 1000 israelischen Soldaten für die Sicherheit der Bewohner sorgen. Doch die im Zickzack verlaufende Grenze reicht östlich der Basis bis ins Tal. Eine Mauer am Hang soll vor Eindringlingen schützen. Josef zeigt auf ein Stück Wald am Hang: »Von dieser Position kann die Hisbollah mit Panzerabwehrraketen fast jeden Punkt in der Stadt treffen.« Aber die Lage sei derzeit unter Kontrolle; Luftangriffe hätten zumindest die Zahl der meist in Schwarz gekleideten Kommandoeinheiten aus dem Libanon reduziert.
Der ehemalige Armeeoffizier Josef ist auch für die Sicherheit der Geisterstadt Schlomi verantwortlich. Mitten in dem im Bau befindlichen Neubaugebiet, wenige Meter vor der libanesischen Grenze, erläutert er die Mission, für die er angetreten war: »Schlomi soll in wenigen Jahren 25 000 Einwohner haben, eine Art Wehrsiedlung mit hoher Lebensqualität.«
Das angenehme Klima und die unberührte Natur ziehen viele junge Familien aus Tel Aviv in den Norden. Dass Schlomi in Reichweite der Hisbollah-Raketen liegt, hatte bisher niemanden gestört. »An den Krieg von 2006 kann sich doch kaum noch jemand in Israel erinnern«, sagt Luchy Josef. Als Kommandeur einer Einheit der israelischen Armee war er damals jenseits der Grenze im Einsatz. Vor dem Waffenarsenal der Hisbollah hat er zwar Respekt, doch die meisten Raketen würden durch das Abwehrsystem »Iron-Dome« abgefangen. Josef hofft, die Einwohner Schlomis schon bald wieder zur Rückkehr bewegen zu können. Im Stadtzentrum hat bereits ein erstes Restaurant geöffnet, doch die meisten Kunden sind bisher nur bis an die Zähne bewaffnete Soldaten.
Auch die täglich vermeldeten Einschläge von Hisbollah-Raketen auf den Feldern östlich der Stadt und in den niedrig gelegenen Dörfern Nordisraels lassen die Hoffnung auf eine baldige Rückkehr der Evakuierten unrealistisch erscheinen. »Israelische Grenzorte, die unterhalb libanesischer Siedlungen liegen, sind praktisch immer im Visier von Panzerabwehrraketen der Hisbollah«, sagt ein Armeeoffizier vor dem Restaurant von Jonny Misrahi.
Er sagt, was offenbar viele in Schlomi verbliebenen Bewohner fordern: Ohne den Abzug der Hisbollah von der Grenze wäre der Norden Israels künftig nicht sicher. Laut der UN-Resolution 1701 darf die Hisbollah eigentlich den Fluss Litani nicht überschreiten, der quasi parallel zur Grenze in Ost-West-Richtung fließt. Rund 30 Kilometer von der Grenze entfernt, könnten ihre Kommandotrupps die gefährlichen Panzerabwehrraketen nicht einsetzen.
Doch die im Südlibanon stationierten UN-Soldaten der Unfil-Mission schauen dem täglichen Einsickern der wenige Mann starken Hisbollah-Kommandos bis an die sogenannte grüne Grenzlinie tatenlos zu. »Wir trauen niemandem mehr, außer uns selber«, sagt Ex-Offizier Luchy Josef. Er glaubt, dass die israelische Armee die Resolution 1701 selber durchsetzen könne. Doch der Preis eines Einmarsches in den Südlibanon wäre vielleicht ein regionaler Krieg – Schlomi würde zur Frontstadt. »Ich hoffe, es gibt eine andere Lösung«, sagt Josef und schaut in den Wald an der Grenze.
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