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Eine andere Art von Krieg

Der Film »Eine Frage der Würde«, in dem eine Seniorin ihr Gespartes durch Betrug verliert, zeichnet ein desolates Bild der bulgarischen Gesellschaft

Von der Betrogenen zur Betrügerin: Blaga Naumova (Eli Skorcheva) will ihr Geld zurück.
Von der Betrogenen zur Betrügerin: Blaga Naumova (Eli Skorcheva) will ihr Geld zurück.

Die Älteren werden sich erinnern, dass Eigenschaften wie Ehrlichkeit und Anstand einst als edle Tugenden galten, mit denen man ein kleines, aber rechtschaffenes Leben führen konnte. Das scheint lange her und vergessen, zumindest in der Welt, wie sie der bulgarische Regisseur Stephan Komandarev entwirft. In dieser herrschen nur mehr blanke Gier, Rücksichts- und Skrupellosigkeit, Zynismus sowie der nackte (Überlebens-)Kampf aller gegen alle. Dass dieses Bild nicht allzu weit vom Vulgärkapitalismus abweicht, wie er aktuell in manchen osteuropäischen Ländern herrscht, zeigen uns viele Filme aus dem postsozialistischen Raum.

Eine Extremform von Gewissenlosigkeit ist es, wenn älteren Menschen mit einschlägigen Betrugsmaschen das mühsam Ersparte aus der Tasche gezogen wird. Diese Trickbetrüger agieren europaweit, kommen in aller Regel aus Osteuropa und verschonen auch die eigenen Landsleute nicht.

Das muss auch Blaga Naumova erfahren. Blaga ist pensionierte Bulgarischlehrerin in Schumen, einer mittleren Großstadt in Bulgarien, und eine idealtypische Vertreterin oben genannter Tugenden. Darüber hinaus verkörpert sie den Typ Lehrerin, vor dem Kinder aus Furcht gespeisten Respekt haben. Kühl, streng und unnahbar lebt sie die (Selbst-)Disziplin vor, die sie einst auch von ihren Schülern erwartet hat. Nun hat sie nur noch die junge Armenierin Tanja, der sie privaten Sprachunterricht für den Einbürgerungstest erteilt und mitleidlos nicht den kleinsten Fehler durchgehen lässt.

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Ihre eiserne Selbstbeherrschung verliert Blaga auch nicht, als sie zum Opfer von Trickbetrügern wird. Mit welcher Raffinesse die Kriminellen vorgehen, zeigt sich darin, dass sie selbst eine so scharfsinnige und gebildete Frau wie Blaga dazu bringen, ihr gesamtes Geld buchstäblich aus dem Fenster zu werfen. Dieses Geld war eigentlich dafür gedacht, ihren gerade erst verstorbenen Mann würdevoll unter die Erde zu bringen. Das wird nun schwierig.

Die Verhandlungen mit dem Angestellten des Friedhofs gestalten sich wie ein Lehrstück in Marktwirtschaft. Mitleidlos treibt er den Preis für den gewünschten Grabplatz nach oben und geriert sich selbst als Opfer der Verhältnisse, in denen nun einmal jeder sehen müsse, wo er bleibe. Als gläubige Frau hat Blaga keine Wahl: Nach orthodoxem Ritus muss der Verstorbene innerhalb von 40 Tagen unter der Erde sein, damit die Seele Frieden findet. Als nunmehr mittellose Frau bleiben ihr allerdings nicht viele Möglichkeiten der Geld(wieder)beschaffung. Bei der Polizei zuckt man nur mit den Schultern, die Bankangestellte, bei der sie vergeblich um einen Kredit nachsucht, verweist pikiert auf ihr Alter, genau wie potenzielle »Arbeitgeber«.

Es ist eine schauspielerische Meisterleistung, der äußerlich so ungerührt wirkenden Eli Skorcheva als Blaga Naumova dabei zuzusehen, wie sie durch die Stadt eilt, um irgendwie doch noch Geld zu beschaffen, und dabei Schritt für Schritt ihr altes Leben, ihre Werte und Tugenden, die sie lebenslang vertreten hat, über Bord wirft – und schließlich einen radikalen Entschluss fasst: Sie will nicht länger Opfer sein und sich demütigen lassen, außerdem will sie ihr Geld zurück. Bleibt also nur, selbst zur Täterin zu werden.

Das Erschreckende ist, dass dieser Schritt absolut folgerichtig scheint. Ihr Leben lang hat sie sich an die Regeln gehalten – nur um nun im Alter als Bettlerin dazustehen. In einer Welt ohne Skrupel, in der sich Würde nur mehr daran bemisst, wie viel Geld man hat zusammenraffen können, bedeutet es ein Scheitern, nicht alle Möglichkeiten genutzt zu haben, seien sie auch kriminell und fügten als Folge anderen Menschen Leid zu. »Hier herrscht eine andere Art von Krieg«, erklärt sie ihrer Sprachschülerin, als die von ihren Erlebnissen in der umkämpften Heimat erzählt.

Eli Skorcheva war in den 80er Jahren ein großer Star in Bulgarien und feiert nun mit der Hauptrolle in »Eine Frage der Würde« ihr Leinwand-Comeback nach 30-jähriger Absenz. Für Regisseur Stephan Komandarev ist es der dritte Film seiner Trilogie über die sozialen Zustände im gegenwärtigen Bulgarien. Ob die zutiefst pessimistische Sicht auf seine Heimat gerechtfertigt ist oder nicht, einen Nerv hat er jedenfalls getroffen.

Neben dem Grand Prix auf dem Filmfestival Karlovy Vary wurde der Film als Beitrag Bulgariens für die Auslands-Oscars eingereicht, wie auch schon zwei von Komandarevs Vorgängerfilmen. Das lässt ihn zur wichtigsten Stimme des bulgarischen Films werden. »Eine Frage der Würde« ist seine Referenz an die ältere Generation, die vom Übergang in die Marktwirtschaft am härtesten getroffen wurde. Viele einst gebildete und hoch qualifizierte Akademiker leben heute von Hunger-Renten, die kaum das physische Überleben geschweige denn Teilhabe am gesellschaftlichen Leben sichern. Die nackten Zahlen geben Komandarevs niederdrückender Analyse jedenfalls recht; nicht nur ist Bulgarien das ärmste Land in der EU, sondern hat zudem seit der Wende ein Drittel seiner Gesamtbevölkerung durch Migration verloren. Wer nicht auswandern kann, muss zusehen, wo er bleibt. Das Sein bestimmt bekanntermaßen das Bewusstsein, der Verlust des moralischen Kompasses ist die zwangsläufige Folge.

Fortan dient Blaga also jenen, die sie gerade noch ausgeraubt haben, als »Maultier«, wie die Kuriere genannt werden. Stoisch nimmt sie das Geld an sich, das nun andere Leute aus dem Fenster werfen, und ist erstaunt ob der Tatsache, dass ihr ein einziger Botenjob mehr einbringt, als ihre Monatsrente beträgt. So etwas nennt man wohl Gerechtigkeitslücke, und die schließt sie nun auf ihre Weise. Die Preisgabe ihrer bisherigen bürgerlichen Existenz nimmt sie in Kauf; ein Ausweg aus dem (moralischen) Dilemma, in das sie sich zunehmend begibt, kann es für Blaga nicht mehr geben.

Verdenken kann man es ihr nicht, und so ist der Zuschauer hin- und hergerissen zwischen Empathie für die Betrogene und dem eigenen Gerechtigkeitsempfinden angesichts der Tatsache, dass nun andere unter ihrer Mithilfe zum Opfer werden. Das bitterböse, gar zynische Ende des Films erzeugt Verstörung, und das ist ja mit das Beste, was Kunst hervorrufen kann oder soll.

Mit seinen Filmen reiht sich Komandarev ein die Tradition des »Kinos der moralischen Unruhe«. Dieser Begriff hat sich einst für die Kieślowskis frühe polnische Filme etabliert. Gemeint waren damit Filme, die der Wirklichkeit auf die Haut rückten, bis es kratzte, die wissen wollten, was Verantwortung ist und wie sich ein Einzelner dieser Verantwortung stellt. Dass diese ethischen Fragestellungen bis heute viele Filme aus Osteuropa kennzeichnen, lässt sich gewiss aus dieser filmischen Tradition herleiten.

»Eine Frage der Würde«, Bulgarien/Deutschland 2023. Regie: Stephan Komandarev, Buch: Stephan Komandarev, Simeon Ventsislavov. Mit: Eli Skorcheva, Gerasim Georgiev, Rozalia Abgarian, Ivan Barnev, Stefan Denolyubov, Ivaylo Hristov. 114 Min. Jetzt im Kino.

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