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Migrationsdebatte: Die dunkle Seite des Utilitarismus
Kosten-Nutzen-Erwägungen ziehen sich als roter Faden durch die deutsche Migrationspolitik – im Extremfall bis hin zu Deportationsplänen
Über die nächsten vier Jahre werde »es notwendig sein, die Zahl der Türken um 50 Prozent zu reduzieren«, aber man könne dies noch nicht öffentlich sagen. Diese Äußerungen stammen nicht etwa aus den Enthüllungen über das Potsdamer Treffen von Ultrarechten. Getätigt wurden sie im Oktober 1982 von einem frisch ins Amt gekommenen Bundeskanzler namens Helmut Kohl. Zu dieser Zeit lebten rund 1,5 Millionen Menschen mit türkischem Migrationshintergrund in Deutschland. Kohl sagte dies bei einem Acht-Augen-Gespräch mit seinem Berater Horst Teltschik, der britischen Premierministerin Margaret Thatcher und deren Privatsekretär A. J. Coles, der eifrig mitschrieb. Damals gab es noch kein »Correctiv«, und so stolperte erst 2013 der »Spiegel« nach Ablauf der Geheimhaltungsfrist über die brisante Akte »PREM 19/1036« im britischen Nationalarchiv.
Es ist nicht überliefert, wie ernst die Äußerungen gemeint waren oder ob ein beinhart Konservativer unter seinesgleichen mal vom Leder ziehen wollte. In die Tat umgesetzt wurde das Vorhaben ein Jahr später, aber in rechtsstaatliche Watte verpackt: Eine Rückkehrprämie von 10 500 DM plus 1500 DM pro Kind sowie die Auszahlung eines Teils der Rentenversicherungsbeiträge sollten Nicht-EG-Ausländer, die durch Betriebsstilllegungen arbeitslos wurden oder in Kurzarbeit waren, dazu bringen, ihre Zelte in Deutschland abzubrechen. Die auf ein Jahr befristete Prämie, die teils von Unternehmen aufgestockt wurde, nahmen etwa 150 000 Arbeitnehmer in Anspruch.
In der Krise nicht mehr nützlich
Hintergrund der Aktion war der starke Anstieg der Arbeitslosigkeit in der Wirtschaftskrise nach der zweiten Ölkrise, der besonders viele der ehemaligen »Gastarbeiter« traf. Da diese aus Sicht von Politik und Wirtschaft nicht mehr nützlich waren, wollte man einige zur Rückkehr bewegen.
Der Utilitarismus zieht sich wie ein roter Faden durch die Migrationspolitik. Und zwar schon seit dem »frühneuzeitlichen Merkantilismus«, wie der Historiker Roberto Zaugg von der Universität Basel vor einigen Jahren in einer Arbeit nachzeichnete. Auch Deportationen habe es immer wieder gegeben. Zaugg spricht von der »Zentralität der Kosten-Nutzen-Argumente in migrationspolitischen Debatten, die aus einem vielfältigen diskursiven Repertoir schöpfen können«. Viele teilten heute die »Vorstellung, über gesetzliche Instrumente eine wirtschaftsutilitaristische Regulation der Migrationsflüsse durchsetzen zu können«.
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Dass hier die Parteiengrenzen verschwimmen, macht gerade die bundesdeutsche Nachkriegsgeschichte deutlich. Als in der Zeit des Wirtschaftswunders Arbeiter für schwere, schlecht bezahlte Tätigkeiten benötigt wurden, waren es Politiker von CDU und CSU, die die Anwerbeabkommen mit Italien, Spanien, Portugal, Griechenland, der Türkei und anderen unterzeichneten. Hingegen verkündete die sozial-liberale Regierung Willy Brandt in der Konjunkturflaute nach der ersten Ölkrise 1973 den Anwerbestopp. Der Asylkompromiss von 1992/93 mit seinen massiven Rechtsbeschränkungen wurde von Union, FDP und SPD-Opposition gemeinsam beschlossen. Helmut Kohl wiederum erleichterte zum Ende seiner Amtszeit gegen innerparteiliche Widerstände die Einbürgerung von Migranten der dritten Generation. Begründung: Ausländer trügen »ganz erheblich zum Wohlstand der Deutschen« bei und sicherten deren Renten. In den 2000er Jahren wollten SPD und Grüne mit Greencard und Zuwanderungsgesetz IT-Experten ins Land holen. Dass Offenheit und Restriktion zusammengehen, zeigt die Ampel-Koalition: Deren Minister reisen um die Erde, um einerseits Rückführungsabkommen für abgelehnte Geflüchtete auszuhandeln und andererseits Fachkräfte für bestimmte Sektoren anzuwerben. Auch das hat Tradition: Der brandenburgische Kurfürst Friedrich III. erließ 1696 ein Edikt, das als nützlich angesehenen Gruppen von Nicht-Untertanen Unterstützung zusicherte, während andere an der Grenze zurückgewiesen bzw., wenn sie schon da waren, von den Amtsträgern mit besonderer Härte angegangen werden sollten.
Ein zweischneidiges Schwert
Der wirtschaftliche Utilitarismus drückt sich auch in den aktuellen Debatten über rechte Umtriebe aus. Zahlreiche Unternehmen sprechen sich für eine offene Gesellschaft, Respekt und Toleranz sowie gegen Hass und Fremdenfeindlichkeit aus. Es wird weltweit exportiert, in den Werkshallen und Büros arbeiten viele Menschen mit Migrationshintergrund, es braucht Zuwanderung angesichts akuten Fachkräftemangels und mit Blick auf die demografische Entwicklung. Viele andere Firmen schweigen hingegen oder schimpfen lieber über die Ampel-Politik. Und es gibt auch solche, die rechte Gruppierungen oder Zusammenkünfte wie in Potsdam finanzieren.
Für Historiker Zaugg ist der Utilitarismus, der Migranten auf einen Nutzwert reduziert, ein »zweischneidiges Schwert« und kann in der Einwanderungsdebatte sogar gefährlich werden: nämlich dann, wenn das Kostenargument als »objektiv« präsentiert wird, womit sich auch Milieus erreichen lassen, die rein kulturchauvinistischen Ressentiments nicht zustimmen würden. Dies dürfte ein Grund sein, warum die Rechte seit vielen Monaten wächst, obwohl sie immer extremere Positionen vertritt und sogar über millionenfache Deportation sinniert.
Viele Hunderttausend Menschen und zivilgesellschaftliche Initativen gehen aber nicht aus wirtschaftlichem Kalkül gegen rechts auf die Straße. Sie sehen die gesellschaftliche Normalität bedroht, dass Deutschland schon lange ein Einwanderungsland ist, Familienbande und Freundschaften sind für viele einfach Alltag. Der Ruf nach Verteidigung oder Stärkung rechtsstaatlicher Verhältnisse auch für Nichtdeutsche richtet sich letztlich auch gegen den Utilitarismus.
Wenn im Kampf gegen rechts auf die Leistungen von Migranten verwiesen wird, so ist dies zweifellos richtig, es gilt aber zu bedenken: Es gibt eine dunkle Seite des Utilitarismus. Und nicht erst seit dem Aufstieg der AfD. Wie sagte der CSU-Innenpolitiker Carl-Dieter Spranger in der Bundestagsdebatte zum Rückkehrhilfegesetz 1983: »Eine harte Ausländerpolitik senkt die Sozialkosten, trägt also zur Finanzierung bei.«
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