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Der Bahnstreik
G'schichten aus dem Bordbistro und von anderswo
Ich liebe Streiks! Einmal, vor Jahren, strandete ich in Frankfurt am Main. Ich gehe auf die Weihnachtsfeier der Kunsthochschule, es ist eine interne Weihnachtsfeier für den Förderkreis. In der Mitte des Raumes ist ein Laufsteg aufgebaut. Zwei Malereiklassen haben Seidenschals bedruckt, die Professor*innen sehen wie Laufsteg-Models aus. Die Förderer*innen kaufen die Schals (die viele Hundert Euro kosten) und versprechen, beim Rundgang noch die Malerei dazuzukaufen. Alle Studierenden sind als Engel verkleidet. Ich sitze den ganzen Abend hinter der Garderobe und nehme Pelzmäntel entgegen.
Anfang Januar bleibe ich in München hängen, aus Florenz kommend. Aus der Welt gefallen, hatte ich ganz vergessen die Nachrichten zu hören, weltflüchtig, in schuldiger Passivität. Alle anderen hatten von dem Streik gewusst, der Bahnhof ist ausgestorben, die Anzeigetafel leer. Zwei Stunden lang streiten sich drei nette Männer darüber, ob ich ein Hotelzimmer für eine Nacht bekomme oder nicht. Ich schlafe im »Best Western«. Der ICE am nächsten Morgen ist, überraschenderweise, fast leer.
Den Knutschfleck an meinem Hals hatte ich ganz vergessen und wundere mich, dass der Mann auf dem Sitz gegenüber meinen Hals so seltsam ansieht. Er hält seinem Kollegen zwei Papiertüten mit Backwaren hin und sagt: »Croissant oder Pain au Chocolat?« Der Mann neben ihm sagt: »Wenn du so fragst: Pain au Chocolat.« So, wie der Mann den Satz sagt, wirkt es, als gäbe es nicht Deutscheres.
Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist, und versucht es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen.
Ich checke, es kommt mir ebenfalls wahnsinnig deutsch vor, zum dritten Mal die Verbindung, die Umsteigezeit, die Gleise, den Weg dazwischen. Ich überlege, ob ich genug Zeit haben werde, um mir noch einen (besseren) Kaffee zu kaufen. Ich bin unentschieden. Ein paar Minuten später wiederholt sich die Denkbewegung.
Das Beste am Bordbistro ist die Coca Cola in der Glasflasche. Das Schlechteste der Kaffee: Dallmayr prodomo. Trotzdem: Als die Kaffeemaschine ausfällt, verbünde ich mich, im geteilten Leid, direkt mit dem fremden Mann, der mir gegenübersitzt. An einem Bahnhof hechten die Bordbistro-Mitarbeiter*innen nach draußen, rennen in den Zug gegenüber und holen eine riesige Thermoskanne Filterkaffee. Wir beobachten das Spektakel vom Fenster aus.
Als es piept, können wir nicht genau erkennen, ob die dunkelrot bewestete Mitarbeiterin es geschafft hat, wieder einzusteigen oder, mit viel Filterkaffee immerhin, am Bahnsteig stehen geblieben ist. Kurz darauf: Erleichterung. Wir beeilen uns, um die Ersten in der Schlange zu sein. Die Bordbistro-Mitarbeiterin hat noch ganz rote Wangen vom Abenteuer. Der Kaffee schmeckt heute zur Abwechslung ganz okay.
Der Ruhebereich der Deutschen Bahn wiederum ist ein Schrein der Bürgerlichkeit. Erschreckend viele »Germies« (im Sinne von »German People«, aber auch von »Germs«, also Keime) im Partnerlook, die nach Gründen suchen, andere zurechtzuweisen: Nicht so laut tippen!
Selbst wenn ich es nicht will, nehme ich zu viel Raum ein, meine manikürten Fingernägel auf der Tastatur jedenfalls. Harmoniebedürftig wechsele ich den Platz und setze mich neben ein anderes Alien – in diesem Fall ein Typ, der sehr laut Musik hört, die Ellbogen breit ausstreckt und ab und zu rot anläuft, genervt aufheult und dem Laptop-Bildschirm seinen Mittelfinger zeigt. Er versucht, online einen neuen Fußboden zu bestellen, und scheitert.
Vor mir zwei junge Frauen, die von der Bahn dafür angestellt sind, den ganzen Tag hin- und herzufahren und mit Kindern zu spielen. Ich sitze jetzt im Familienbereich. Alle paar Minuten kommen Eltern vorbei und geben ihre Kleinkinder dort ab. Die Gerade-Abiturientinnen öffnen ihre kleinen Köfferchen und holen verschiedene Spiele, Ausmalbilder und Wachsstifte heraus. »Ich bin die Leonie«, sagt die eine jedes Mal zur Begrüßung. Zu mir sagt sie: »Es gibt auch Ausmalbilder, die extra für Erwachsene entworfen wurden!« Ein Kind sagt: »Alles ist bunt, außer Grau und Schwarz.«
Ein anderes Mal nehme ich, aufgrund des Streiks, den Flixbus statt des ICE. Immer wenn ich Reisebus fahre, denke ich an die Klassenfahrt nach Rom, eine »Windmühle« rauchen vor dem Kolosseum. Eine Windmühle – das ist ein Papptrichter, in dem sechs Joints stecken. Mein Klassenkamerad schreit laut, als wir versuchen, ihm Wasser zu verabreichen: »Wasser ist für Tiere da!«
»Der Lokführerstreik ist der einzige Streik, von dem man in Deutschland etwas merkt«, sagt P. gestern Nacht noch im »Würgeengel«. Und ich, schon wieder: »Ich liebe Streiks.« Dann sagt er: »Blockaden sind dafür da, dass die falschen Leute zu spät zur Arbeit kommen.« Und ich denke: Es gibt nichts Deutscheres, als über die Dysfunktionalität der Deutschen Bahn zu sprechen. Und sich darüber zu verbünden.
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