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»Politisch ist, wenn man sich offen gegen den Krieg ausspricht«
Was wurde aus dem russischsprachigen Punk? Ein Gespräch mit dem kasachischen Sänger und Dichter Yermen »Anti« Yershanov
Sie wurden 1974 in der Kasachischen Sozialistischen Sowjetrepublik geboren – was sind Ihre Erinnerungen an die Sowjetzeit?
Ich bin von 1981 bis 1990 in Aktjubinsk zur Schule gegangen, das heute Aqtöbe heißt und damals eine Industriestadt war. Die Perestroika kam bei uns mit einiger Verspätung an, erst etwa 1990. Wir durchlebten alles, was auch der Rest der Sowjetunion durchlebte: den Zerfall der Produktionsbetriebe, den Mangel an einfachsten Waren, Lebensmittelkarten, lange Schlangen, in denen Menschen für Wodka anstanden.
Wurde in Ihrer Familie Kasachisch oder Russisch gesprochen?
Beides. Zur Sowjetzeit waren etwa 65 Prozent der Bewohner von Aktjubinsk primär russisch- und 35 Prozent kasachischsprachig, aber es gab nur eine einzige kasachischsprachige Schule. Heute ist es umgekehrt: Die Kasachischsprecher stellen die Mehrheit, dafür gibt es viele russischsprachige Schulen. Ich ging auf eine russische Schule, die kasachischsprachige war zu weit entfernt.
Yermen »Anti« Yershanov wurde 1974 im nordwestkasachischen Aqtöbe (Aktjubinsk) geboren. Der kasachische Musiker und Dichter gehört zu den populärsten Vertretern der russischsprachigen alternativen Musikszene und gastiert auch regelmäßig in Europa. Neben den Alben mit seiner 2019 aufgelösten Band Adaptatsiya veröffentlichte er mehrere Solo-Alben, Gedichtbände, eine Autobiografie und arbeitet an Theaterprojekten. 2022 erschien sein Gedichtband »Wiederkunft der Wunderkinder« im Dağyeli-Verlag. Für 2024 sind die Alben »Gruz-200« und »Schwarzer Karneval« angekündigt.
Sprach man bei Ihnen zu Hause viel über die Politik zu Sowjetzeiten?
Mein Vater war Mitglied der KPdSU, er trat allerdings bereits 1982 aus der Partei aus, lange vor Beginn der Perestroika. Er bewertete die damalige Politik als Abweichung von den sogenannten Leninschen Normen. Obwohl er Ingenieur war, wechselte er in die Produktion und arbeitete als Metallgießer. In der Sowjetunion hatte man nach zehn Jahren Arbeit in einer »heißen Zeche« Anspruch auf frühere Verrentung. In meiner Familie wurde offen über die Repressionen der Stalinzeit gesprochen. Mein Großvater war Vorsitzender des Rayons (Bezirk) und wurde kurz vor dem Krieg 1941 denunziert, ein Freund im Apparat konnte ihn rechtzeitig warnen. Etwas später bekam er einen Orden verliehen, weil er bei einem Brand Geld aus einer Kasse rettete, aber er wusste natürlich, dass ihm weitere Denunziationen drohen würden, wenn das Geld verbrannt wäre, man hätte ihn der Veruntreuung beschuldigt. Schließlich erhielt er für seine Verdienste den Status »Pensionär von Bedeutung für die Republik«, das verschaffte ihm einige Privilegien. Doch an die damaligen Ängste hat er sich lebhaft erinnert.
Wie fanden Sie zur Rockmusik?
Als ich in die achte Klasse ging, sah ich in einem Kiosk das Cover des Albums »Radio Africa« von Boris Grebenschtschikows Band Aquarium. Es zog mich sofort in seinen Bann. Ich begann mich für die westliche Musik zu interessieren, die den russischen Rock beeinflusste. Schon bald spielte ich Bass in unserer Schule im Musikensemble, wie das damals hieß. 1991 war mir die Musik von The Clash, The Exploited, Sex Pistols schon vertraut, Punk hatte einen großen Einfluss auf mich. Es gab damals in Aktjubinsk Musiker, die spielten, um Geld zu verdienen, in Restaurants, auf Hochzeiten oder Komsomol-Veranstaltungen. Mit denen wollten ich und meine Mitstreiter nichts zu tun haben.
Ihre Band Adaptatsiya entstand nur wenige Wochen nach der offiziellen Auflösung der Sowjetunion, im bereits unabhängigen Kasachstan.
Alles zerfiel innerhalb der letzten zwei Jahre der Sowjetunion. Nur ein einziger Industriebetrieb arbeitete weiter, die Jobs dort haben meine Familie gerettet. Ich selbst studierte dann Russische Philologie auf Lehramt, hauptsächlich um nicht den Wehrdienst leisten zu müssen.
Die ersten Auftritte verdankte Ihre Band dem Kontakt zum »Konkowo-Kreis«, der Szene um Boris Usow und seine Band Solomennyje Jenoty (Waschbären aus Stroh). Er versammelte damals in seiner Wohnung im Moskauer Stadtteil Konkowo verschiedene Bands und Künstler um sich. Dem 2019 verstorbenen Usow eilte der Ruf voraus, ein im Umgang sehr schwieriger, soziophober und alkoholabhängiger Mensch zu sein.
Zur damaligen Zeit erlebte ich ihn noch anders, als den äußerst energiegeladenen, tatenfreudigen Kopf der Szene. Ich spielte zeitweilig in seiner Band auch Schlagzeug. Aber nach fünf Jahren intensiver Zusammenarbeit verschlechterten sich zwischen uns die Beziehungen. Ständig gab er Anweisungen, was unsere Band zu tun und zu lassen habe. 2000 endete unsere Zusammenarbeit.
Der »Konkowo-Kreis« stand in der Tradition der Sibirischen Punkschule um Jegor Letow und seine Band Graschdanskaja Oborona. In den 90ern wurden die Kontakte der Sibirier zu Eduard Limonows Nationalbolschewistischer Partei (NBP) immer enger. Der aus dem US-Exil zurückgekehrte Schriftsteller Limonow versuchte sich an einer Synthese sowjetischer und nazistischer Symbolik. Hat der russische Underground Putins heutige Ideologie vorweggenommen?
Damals ging das alles auf einer Ebene von kleinen Zirkeln vonstatten. Niemand dachte, dass diese Ideen jemals in die Hände und Köpfe von Menschen geraten würden, die Zugriff auf die Atomwaffen haben. Alexander Dugin (neurechter Theoretiker und Mitbegründer der NBP – Anm. d. Red.) hielt damals Vorträge vor vielleicht 30 Leuten, von denen die eine Hälfte Fans von Letows Punkmusik war und die anderen sich für diese Philosophie interessierten.
Sie lebten lange Zeit in Sankt Petersburg, haben Sie in Russland häufig Rassismus erlebt?
Nicht in der Musikszene. Auf der Straße wurde man wegen des Aussehens schon häufiger von der Polizei angehalten. Gegen Ende der Amtszeit von US-Präsident Obama allerdings brach in den russischen Medien das Tabu, sich rassistisch zu äußern. Man las und hörte immer mehr entsprechende Kommentare.
Sie sagen, russische und kasachische Politik habe Sie lange nicht wirklich interessiert.
Ja, für mich war klar, dass der primäre Antrieb dort die Korruption ist. Ich interessierte mich mehr für die internationale globalisierungskritische Bewegung.
Seit den Protesten im Januar 2022 erhöhte sich die Aufmerksamkeit für Kasachstan. Der neue Präsident Qasym-Zhomart Toqayev versprach eine Reihe von Reformen.
Der erste Präsident Kasachstans, Nursultan Nazarbayev war in einem Sumpf von Korruption versunken. Toqayev wird als eine Alternative wahrgenommen, der das Land von Nazarbayevs Erbe befreit.
Die Proteste im Januar 2022 schlugen in Gewalt um, schließlich rief Toqayev die Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) zu Hilfe, ein russlandgeführtes Militärbündnis ehemaliger Sowjetrepubliken.
Interessanterweise rief Toqayev nicht Putin um Hilfe – den Vorsitz der OVKS hatte gerade Armenien; er wandte sich an den dessen Regierungschef Nikol Paschinjan. Nachdem die OVKS-Truppen eingetroffen waren, stellten sich die bis dahin abwartenden Einheiten der kasachischen Armee auf die Seite Toqayevs. Die Protestierenden wandten sich vor allem gegen Nazarbayev, der als »Elbasy« – »Vater der Nation« – weiterhin erhebliche Macht ausübte, unter anderem als Vorsitzender des Nationalen Sicherheitsrates auf Lebenszeit. Dem hielten sie entgegen: »Wir haben einen gewählten Präsidenten, wir brauchen keinen Vater der Nation.«
2016 hat Adaptatsiya im Donbass gespielt, was Ihnen manche bis heute vorwerfen.
Wir waren vor Kriegsbeginn 2014 oft in der Ukraine, und ich kannte Donezk gut. Wir wollten uns selber ein Bild von der Lage machen. Als Bedingung für unseren Auftritt forderten wir, dass keine Flaggen der Kriegsparteien im Saal gezeigt würden, und das wurde auch eingehalten. Wir spielten im Februar 2016; den Beschuss im großen Stil gab es zu der Zeit nicht, aber punktuell schlugen Geschosse ein. Es waren sichtlich weniger Menschen in der Stadt, der Bezirk Oktyabrskij war quasi entvölkert, geblieben waren nur die alten Menschen. Die Staatsmacht hatte sich für zwei, drei Monate unsichtbar gemacht, Banden hatten die Herrschaft übernommen. Die Anhänger des »Neurussland«-Projektes sprachen ganz offen über die Unterstützung durch Russland. Zwei Jahre später fanden wir unsere Namen in der »Mirotworez«-(Friedensstifter)-Onlinedatenbank wieder, in der vermeintliche Feinde der Ukraine aufgelistet werden.
Hat der Krieg für Sie viel verändert?
Für mich ist es so: Wenn sich heute ein Mensch offen gegen den Krieg ausspricht, dann ist das schon eine politische Position. Dann haben wir einen Berührungspunkt.
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