»Alle Menschenleben zählen«

Die Nama-Vertreterin Sima Luipert kritisiert die Haltung Deutschlands im Völkermord-Prozess gegen Israel

  • Interview: Ulrike Wagener
  • Lesedauer: 7 Min.
Uruanaani Scara Matundu, ein Vertreter der Herero-Gemeinde, zeigt in Windhuk Fotos seiner Vorfahren. Seine Familie ist vor dem Völkermord in der ehemaligen deutschen Kolonie zu Beginn des 20. Jahrhunderts nach Botsuana geflohen.
Uruanaani Scara Matundu, ein Vertreter der Herero-Gemeinde, zeigt in Windhuk Fotos seiner Vorfahren. Seine Familie ist vor dem Völkermord in der ehemaligen deutschen Kolonie zu Beginn des 20. Jahrhunderts nach Botsuana geflohen.

Der Internationale Gerichtshof in Den Haag hat das Verfahren gegen Israel wegen des Vorwurfs des Völkermordes im Gazastreifen angenommen. Israel muss jetzt Maßnahmen ergreifen, um einen Genozid zu verhindern. Wie bewerten Sie die Verfügung des Gerichts?

Das Urteil ist nicht perfekt, weil das Gericht keinen Waffenstillstand angeordnet hat. Es ist jedoch ein Schritt in die richtige Richtung und räumt mit der Annahme auf, dass das Recht auf Selbstverteidigung Israels mit einem Recht einhergehe, ungestraft Massengewalt auszuüben. In Gaza wird dringend Hilfe benötigt, und es ist zu hoffen, dass die vorläufigen Maßnahmen dies ermöglichen werden.

Interview
Foto: amnesty international

Sima Luipert ist Beraterin für internationale Angelegenheiten bei der Nama Traditional Leaders Association (NTLA) und Mitglied des dortigen Fachausschusses für Völkermord. Außerdem ist sie Entwicklungsplanerin und setzt sich aktiv für menschenrechtsbasierte Entwicklung und sozialen Wandel ein.

Die deutsche Regierung hatte sich zu Beginn des Verfahrens an Israels Seite gestellt. Der Vorwurf eines Genozids entbehre »jeder Grundlage«, hieß es. Verschiedene UN-Sonderberichterstatter haben Deutschland dafür kritisiert. Besonders scharfe Kritik kam aber von Hage Geingob, dem namibischen Präsidenten. Warum ausgerechnet Namibia?

Diese Reaktion ist zu erwarten gewesen. Namibia hat sehr tief verwurzelte Verbindungen zu Deutschland. Die Ursache dafür liegt in dem Völkermord, den deutsches Militär zwischen 1904 und 1908 hier in Namibia verübt hat. Einen Völkermord, den Deutschland bis heute nicht vollständig anerkannt hat. Aktuell verhandeln die beiden Staaten über eine Ergänzung zu einer »gemeinsamen Erklärung«, die von sehr vielen Menschen in allen Ecken Namibias abgelehnt wird – fast drei Jahre nach seiner Veröffentlichung hat das namibische Parlament immer noch nicht darüber abgestimmt. Bei der Kritik geht es darum, dass die Betroffenengruppen keine eigenen Verhandler schicken konnten. Und es geht darum, dass der Genozid nur »aus heutiger Sicht« – also moralisch, nicht aber juristisch – anerkannt wird und deshalb auch keine Reparationen, sondern nur (freiwillige) Entwicklungshilfe gezahlt wird. Außerdem steht darin, dass damit diese Frage abgeschlossen sei und die Frage nach Reparationen quasi für alle Zeiten vom Tisch wäre. Der Präsident hat sich bisher immer sehr konform zur deutschen Regierung verhalten. Dass nun solch deutliche Kritik vom namibischen Präsidenten kommt, offenbart die Frustration darüber, dass Deutschland den Genozid in Namibia nicht vollständig anerkannt hat, nun aber Israel unterstützt, obwohl mit jedem Tag deutlicher wird, dass es genozidale Tendenzen in der Art und Weise gibt, wie Israel diesen Krieg führt.

Geingob sagte: »Deutschland kann nicht moralisch der UN-Konvention gegen Völkermord verpflichtet sein, einschließlich der Sühne für den Völkermord in Namibia, und gleichzeitig das Äquivalent eines Holocausts und Völkermords in Gaza unterstützen.« Was in Gaza passiert ist auf vielen Ebenen anders als der Holocaust. Was denken Sie, warum er das so gesagt hat?

Der namibische Präsident hat in der Vergangenheit auch einen Vergleich angestellt, indem er sagte, die Apartheid sei schlimmer gewesen als der Völkermord in Namibia. Ich persönlich fühle mich nicht wohl dabei, eine Gewalt mit einer anderen zu vergleichen. Gewalt ist Gewalt und sie muss gestoppt werden. Die Nama und Ovaherero haben sich immer mit dem jüdischen Volk verbunden gefühlt, weil es ähnliches Grauen durchgemacht hat. Die singuläre Sichtweise, dass die Gräueltaten des Holocausts mit nichts in der Geschichte zu vergleichen sind, wird langsam vom globalen Süden infrage gestellt. Denn diese hat dazu geführt, dass Deutschland andere Formen der Gewalt aus seinem kollektiven Gedächtnis getilgt hat. Sie werden zu Vorfällen von vergleichsweise geringer Bedeutung reduziert. Damit bin ich nicht einverstanden. Jedes Ereignis, das gewalttätig ist, muss in seinem eigenen Kontext betrachtet werden. So wie Deutschland den Holocaust zu Recht anerkennt, ist es verpflichtet, den Völkermord an den Nama und Ovaherero vollständig anzuerkennen. Deutschland hat die moralische Pflicht, jetzt zu beweisen, dass alle Leben zählen, und über seine selektive Moral und die Anwendung von Doppelstandards nachzudenken. Das ist auch der Grund, warum das Verfahren vor dem Internationalen Gerichtshof so außergewöhnlich ist. Der globale Norden kann nicht länger so tun, als hätte er das alleinige Recht, die Geopolitik zu diktieren oder zu bestimmen, was Zivilisation ist.

Der Beginn des Prozesses am Internationalen Strafgerichtshof fiel auf den 12. Januar, den 120. Jahrestag des Beginns des Krieges zwischen der Kolonialmacht Deutschland und der indigenen Bevölkerung Namibias, der dann in den Völkermord mündete. An diesem Tag hat sich die deutsche Regierung überhaupt nicht dazu geäußert. Was denken Sie darüber?

Die Darstellung, dass der Kolonialkrieg am 12. Januar 1904 begann, ist irreführend. 1893 griff Deutschland das Dorf Hornkranz an und massakrierte Frauen, Kinder und alte Menschen. Und danach gab es viele, viele Widerstandskriege gegen die deutschen Kolonialtruppen.

Also ist es kein Problem, dass Deutschland diesem Tag nicht gedenkt?

Doch, das denke ich schon. Weil Deutschland nach diesem speziellen Krieg die Entscheidung getroffen hat, dass die einzige Möglichkeit, die »rebellischen Eingeborenen« zu stoppen, ihre Vernichtung ist. Gegenüber der eigenen Bevölkerung hat Deutschland damals dieses Datum benutzt, um das Ausmaß der Gewalt zu rechtfertigen.

Deutschland argumentiert im Fall Südafrika gegen Israel völlig anders als im Fall Gambia gegen Myanmar. Darin wird Myanmar vorgeworfen, seit 2016 einen Völkermord an der muslimischen Minderheit der Rohingya zu begehen. Während Deutschland im Fall Israels das Fehlen einer genozidalen Absicht betont, argumentierte es im Falle Myanmars, dass die Massentötung von Gruppenmitgliedern, insbesondere Kindern, bereits der offensichtlichste und direkteste Ausdruck der Absicht sei, die Gruppe ganz oder teilweise zu vernichten. Vertreter*innen der Ovaherero und Nama haben mehrmals versucht, Deutschland selbst wegen des Völkermordes in Namibia vor Gericht zu bringen. Können Sie erklären, wie Deutschland dort argumentiert hat?

Im Fall von Namibia hat Deutschland immer argumentiert, dass die Genfer Völkermordkonvention erst 1948 in Kraft getreten ist und diese nicht rückwirkend angewendet werden könne.

Deshalb spricht die Bundesregierung in der gemeinsamen Erklärung von einem Völkermord »aus heutiger Sicht«?

Ja. Deutschland argumentiert auch, dass das Völkerrecht zu jener Zeit die Nama und Ovaherero in die Kategorie der »wilden Stämme« einordnete und es sich damit rechtlich gesehen nicht um einen Völkermord handele. Das ist das offizielle juristische Argument Deutschlands. Das ist das gleiche Deutschland, das den Holocaust – der ebenfalls vor 1948 stattfand – als Völkermord bezeichnet und auch Reparationen geleistet hat. Deutschland entscheidet also sehr selektiv, wann ein Massenmord dieses Ausmaßes als Völkermord gilt oder nicht.

Ein Sprecher des Auswärtigen Amtes sagte in einer Bundespressekonferenz am 15. Januar: »Wir als Bundesregierung benennen (...) die Verbrechen an den Herero, Nama, Damara und San als das, was sie sind. Sie waren ein Völkermord.« Widerspricht sich das nicht?

Vor Gericht argumentieren deutsche Anwälte, dass Deutschland im Sinne des Völkerrechts das Recht hatte, solche Gewalt anzuwenden, die zum Völkermord wurde. Auf dieser Grundlage behauptet die Bundesregierung weiterhin, dass sie keine rechtliche Verantwortung trägt. Gleichzeitig heißt es, dieses Gesetz war damals so schlecht und deshalb erkennen wir den Genozid »aus heutiger Sicht« an. Deutschland erweckt damit den Eindruck, dass es sich schlecht fühlt wegen dem, was damals passiert ist. Und als Gegenleistung dafür will es Entwicklungshilfe leisten – aus gutem Willen heraus. Aber wenn man etwas aus gutem Willen tut, bedeutet das, dass man eigentlich nicht verantwortlich ist.

Die Bundesregierung will Reparationen vermeiden. Eine Gruppe aus der Vereinigung der traditionellen Führer der Nama (NTLA), der traditionelle Autoritäten der Herero und Bernadus Swartbooi, dem Vorsitzenden der Partei Landlosenbewegung ist nun vor das Oberste Gericht von Namibia gezogen. Was wollen Sie damit bezwecken?

Die Kläger sind der Auffassung, dass die gemeinsame Erklärung nicht im Einklang mit der namibischen Verfassung ist. Eine Resolution des Parlaments von 2006 sieht vor, dass Verhandlungen zwischen den betroffenen Communitys und Deutschland ermöglicht werden sollen, mit dem Ziel, »volle Entschädigung im Sinne des Völkerrechts« auszuhandeln. Das wurde nicht erfüllt. Dass die Ovaherero und Nama nicht als eigenständige Verhandlungspartner zugelassen waren, verletzt außerdem eine UN-Erklärung über die Rechte der indigenen Völker. Auf dieser Grundlage fordern sie das Gericht auf, die gemeinsame Erklärung für ungültig zu erklären.

Sie kritisieren auch den namibischen Präsidenten für sein Statement. Warum?

Ich finde es sehr gut, dass der namibische Präsident die deutsche Regierung kritisiert hat. Aber Namibia sollte auch für seine eigene Bürger einstehen und Deutschland kritisieren. Wir fordern neue Verhandlungen, mit dem Ziel der vollständigen Anerkennung des Völkermordes. Gelingt dies nicht innerhalb eines bestimmten Zeitraums, sollte der namibische Präsident Deutschland vor den Internationalen Gerichtshof bringen.

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