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»Green Border«: Gefangen in der Todeszone
Was passiert mit Menschen, die in die EU flüchten wollen? Der verstörende Spielfilm »Green Border«
Vom Flugzeug aus sieht man eine schier endlose grüne Fläche. Das sind die Wälder zwischen Belarus und Polen. Mittendurch verläuft die Außengrenze der EU, die mehr und mehr zum neuen Eisernen Vorhang zwischen Ost- und Westeuropa wird.
An Bord des Flugzeuges sind sie noch alle Passagiere, zahlende Gäste, die mal diesen oder jenen Wunsch haben. Da ist die Familie aus Syrien mit dem Großvater und den Kindern, die zu ihrem Verwandten in Schweden weiterreisen wollen. In Syrien haben sie durch den Krieg ihre Existenzgrundlage verloren. Und da ist auch eine ältere Englischlehrerin aus Afghanistan, die nicht warten will, bis die Taliban sie finden. Man spricht über die Zukunft und wie gut es sei, dass es den Weg über Belarus in die EU gäbe, die Route über das Mittelmeer hätten sie nie genommen, die sei viel zu gefährlich, vor allem mit Kindern.
Als die Maschine in Minsk landet, bekommt jeder Passagier von den Stewardessen eine Rose: »Welcome to Belarus!« Das ist für sie die letzte freundliche Begrüßung für lange Zeit – und für einige von ihnen für immer. Am Flughafen wartet wie angekündigt der vom Verwandten bestellte Transporter. Fährt der bis nach Schweden? Nein, nur bis zur polnischen Grenze, so erfahren sie. Dahinter aber gehe es dann gleich weiter nach Schweden. So tauchen sie ein in das Grün des riesigen Waldgebietes, die Straße hört auf, unbefestigte Wege beginnen – und plötzlich will der Fahrer noch mal dreihundert Euro. Aber es war doch schon alles im Voraus bezahlt! Ein höhnisches Lachen ist die Antwort.
Plötzlich haben sie einen Stacheldrahtzaun vor sich, sie werden erwartet – und jetzt treibt man sie schon rüde voran. Schnell durch und dann durch das polnische Sperrgebiet weiter, so heißt es. Wenn sie das hinter sich hätten, kämen sie auch nach Schweden. Sie kriechen durch einen Spalt im Zaun, die ersten Koffer bleiben zurück. Wichtig sind die Handys, aber deren Akkus leeren sich schnell. Tatsächlich, Google Maps zeigt ihnen Polen an – das hier ist also schon die EU! Sie haben es geschafft, so glauben sie.
Agnieszka Holland erzählt mit »Green Border« eine klaustrophobische Geschichte. Sie nimmt sich zweieinhalb Stunden Zeit dafür, setzt stellenweise wie in Echtzeit in Szene, was an dieser grünen Grenze mit Menschen passiert, die in die EU flüchten wollen. Man hat ihnen erzählt, über Belarus sei es einfach, illegal in die EU einzureisen und Asyl zu beantragen. Aber das stimmt nicht, die Polen sollen die Festung Europa nach Osten hin absichern – und die konservative polnische Regierung, die es 2023 zum Zeitpunkt des Drehs noch gab, entfaltet dabei einen besonderen Eifer. Man praktiziert das Prinzip Abschreckung.
Und wir begleiten die syrische Familie und die afghanische Englischlehrerin, deren Bruder für die polnische Armee gearbeitet hat, bei ihrer Odyssee durch den Wald. Schnell spüren alle, es geht nicht voran – dies hier ist eine Art Todeszone, wie sie Andrej Tarkowski in »Stalker« gezeigt hatte. Die Angst wächst. Es passieren merkwürdige Dinge, Menschen verschwinden spurlos im Sumpf. Aber anders als bei Tarkowski ist hier keine mysteriöse Kraft im Spiel, sondern eine rücksichtslose Machtpolitik, die ihre Interessen mit (fast) allen Mitteln durchsetzt. Wir sehen Grenzer, die Leichen über den Stacheldrahtzaun werfen. Die einen werfen sie hin, die andern wieder zurück.
Die syrische Familie und die Afghanin werden nach stundenlangem Irrlauf schließlich vom polnischen Grenzschutz aufgegriffen. Aber statt ihre Personalien für den Asylantrag aufzunehmen, fahren sie sie sofort zurück zur Grenze – und treiben sie durch den angehobenen Stacheldraht zurück nach Belarus. Man nennt diese nicht erlaubte Praxis »Push-Backs«. Auf der anderen Seite aber wartet schon der Grenzschutz von Belarus und es dauert nicht lange, da werden sie wieder zurück nach Polen gebracht. Ein Mann sagt, er sei schon achtmal hin und her getrieben worden. Ein Grenzer aus Belarus, um Wasser für die Kinder gebeten, fordert für eine Wasserflasche fünfzig Euro, und als eine Frau sagt, das sei doch zu viel, gießt er das Wasser vor ihren Augen aus.
Es fehlt sehr bald an allem. Die Verletzungen durch den Stacheldraht beginnen sich bei den langen Nachtmärschen durch den Wald zu entzünden. Es gibt keine trockene Kleidung zum Wechseln mehr, die derart im Wald Gefangenen werden krank, zuerst die Alten und die Kinder. Hilft ihnen keiner? Doch, es gibt polnische Helfer, die ihnen Wasser und Kleidung bringen, auch die Wunden desinfizieren. Aber sie aus dem Wald führen, dürfen sie nicht, das wäre eine Straftat. Eine schizophrene Situation, die alle Beteiligten beschädigt. Die Helfer warten am Rande der Sperrzone und fahren dann mit ihren Wagen wieder davon, frustriert, dass sie nicht mehr tun konnten.
Die Regisseurin wertet das Grenz-Geschehen nicht, sie klagt niemanden an, zeigt nur, was diese Situation mit allen macht, die daran beteiligt sind. Das gibt dem Film jene Hermetik der Bilder, die ihn stark macht. So sehen wir kommentarlos einen Kommandeur der polnischen Armee vor den Grenzern mit einer Motivationsrede auftreten, in der es heißt, sie dürften keine Schwächen zeigen, es sei jeder selbst schuld daran, der seine Kinder in solch eine gefährliche Fluchtsituation bringe. Das seien »keine Menschen, sondern menschliche Geschosse«, die Lukaschenko abschieße, um Polen und die ganze EU zu destabilisieren. Unter denen, die hier um Asyl bitten, seien schließlich auch Terroristen, die dann in Warschau oder Berlin Anschläge verübten.
Doch manch einer unter den polnischen Grenzern hält es nicht aus, sich so gegen jedes Mitgefühl abzupanzern. Da ist ein junger Mann, dessen Frau gerade ein Kind erwartet und der mehr und mehr daran zweifelt, ob man so mit Menschen in Not umgehen darf, wie sie es tun. Da ist auch Julia (Maja Ostaszewska), eine Psychologin, die bei ihren Patienten streng auf Einhaltung von Normen achtet. Doch als sie mit den polnischen Aktivisten zusammentrifft, versteht sie nicht, warum diese so zögerlich in ihren Aktionen sind. Sie entschließt sich, mehr zu tun und fährt mit ihrem Wagen in den Wald, will vor allem Kranke herausholen – aber gerät so unweigerlich selbst in die Mühlen der Strafverfolgung.
Es ist ein deprimierender Film, der eine Innenansicht der herrschenden Ohnmacht des Westens liefert. Man weiß nicht, wie man mit den Betroffenen jener Krisen und Katastrophen umgehen soll, die man selbst mitverursacht hat. Das betrifft keineswegs nur Polen – es ist schließlich noch nicht so lange her, da spielten sich Szenen wie an grünen Grenze zwischen Belarus und Polen an der Oder ab, die damals noch Grenzfluss der EU war.
In Polen hat »Green Border«, dieser verstörend bildstarke Film, im vergangenen Jahr für heftige Aufregung gesorgt. Staatspräsident Duda und andere führende PiS-Politiker sprachen von einem Film im Stile der »NS-Propaganda«. Donald Tusk, zu der Zeit Oppositionsführer, verwies darauf, dass jene, die am lautesten gegen den Film protestierten, ihn gar nicht gesehen hätten. Ein Prinzip der Politik im Umgang mit den Provokationen von Kunst, an das sich die Älteren noch gut erinnern.
»Green Border«, Polen/Tschechien/Frankreich 2023. Regie Agnieszka Holland. Mit: Jalal Altawil, Maja Ostaszewska, Tomasz Włosok, Behi Djanati Atai. 147 Min.
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