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TV-Talk »Caren Miosga«: Komm mit ins Elend!
Rückblick auf einen Anfang: Die Sendung »Caren Miosga«, ein Minister und das Erbe der Talkshows
Talk ist eine Einladung: Komm mit ins Elend! Denn Talk ist Teil einer epidemischen Unterhaltsamkeit inmitten weltweiter Mitteilungsinkontinenz. Das Fernsehen, ein geräumiger wie vollgestopfter Geredeschuppen, weiß ein Mittel gegen seine eigenen Talkshows: neue Talkshows. Eine davon: »Caren Miosga« in der ARD, Sonntagabend. Miosga, die viele Jahre die »Tagesthemen« moderierte, folgt auf Anne Will.
Statt der Distanzen zwischen mehreren Sesseln im Studio nun ein ovaler Holztisch, sehr funktionales Gestühl. Keine Gemütlichkeit, aber doch Nähe, umfasst von gedämpften Tönungen, grün, erdig, türkis. Das Gesprächsplateau ist umgeben von einer blauen Fläche, sie ähnelt einem Flüsschen um eine Burgfriedensanlage. Und Caren Miosga? Posiert nicht mit Eiseskühle, und im Charme bleibt ihr Lächeln leicht tückisch. Das Halbneckische will den Revierbesitz andeuten und wird sich mit der Zeit wohl legen.
Auftakt jeder Sendung ist ein Einzelgespräch. Zu erfahren war am Premierenabend Mitte Januar, dass Friedrich Merz nicht bei geschlossenen Fenstern schlafen kann, und am darauffolgenden Sonntag sah man Wolodymir Selenskyi außergewöhnlich und außerplanmäßig sanft lächeln. Die Flankierenden der bisherigen Folgen, je zwei Gesprächspartner pro Sendung, kamen aus dem Journalismus, der Wissenschaft und einer Vorstandsetage.
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Derzeit kann es in politischen Gesprächsrunden nur um eines gehen: Was wird aus Deutschland? Wie geht alles weiter, da nichts mehr zu gehen scheint? Konkret am gestrigen Sonntag: Überfordert die Ampel Deutschland? Vokabular-Steinschlag: schuldenfinanziertes Sondervermögen für Unternehmen, Netzausbau, Infrastrukturkosten, Klimageld. Spröder Stoff. Politökonomie. Fast seminarreif, tiefernst jedenfalls. Und genau dieser Ernst führte zu einem Kern: Man hörte Zahlen, sah aber einem Leiden zu. Robert Habeck litt. Sein ganzes Ausdruckswesen erzählte: Was immer ich derzeit anfasse, es fasst mich an. Er suchte nicht nach Ausflucht, sondern nach Halt, von dem er gleichzeitig sagte, es gebe ihn nicht. Er stockte; selbst die Beisitzenden, ein Wirtschaftsboss und eine Redakteurin, schienen, auch wenn sie sprachen, gebannt zu schweigen. Gebannt – oder gar mitleidig?
Friedrich Merz, vor 14 Abenden, hatte seine gewohnte Glätte offeriert, Caren Miosga wollte ihm schon ein Phrasenschwein hinstellen (fünf Euro pro Leersatz). Nun dagegen die Offenlegung einer Pein – zugegeben, das rührte, auch wenn man wusste, der nächste Tag bringt den alten jungen Zorn über die Zustände zurück. Zorn, der auch den Wirtschaftsminister Habeck trifft. Wegen jener Zustände, die gegenwärtig so sind, wie sie Volker Braun schon vor Jahren beschrieb: »Ein zerklüfteter, verwinkelter Platz für Allgemeinplätze, weichgezeichnet von den Medien, eine harsche Struktur ohne Subjekt … Bastionen, Politkartelle, feste Banken umgeben von demokratischen Rabatten«.
Im Augenblick einer an ihn gestellten Frage folgt der Mensch bekanntlich einem Legitimierungsdruck und tut antwortend so, als sei er ausgefüllt von einer einzigen Ansicht. Im öffentlichen Auftritt wird nicht wirklich Gebrauch gemacht von Einwänden gegen sich selbst. Aber ins Wirtschaftsvokabular des Abends schoben sich doch merk-würdige Habeck-Sätze: »Tue ich eigentlich als Wirtschaftsminister das Richtige? … Ich weiß nicht, ob das Land das aushält … Versuchen wir die Quadratur des Kreises.« Wir, wer ist das?
Das Publikum im Studio – es wird nicht einbezogen, liefert aber die atmosphärische Schwingung einer unmittelbaren Zeugenschaft – war also eingeladen zu den Verkündungen, Freimütigkeiten und rhetorischen Standards einer arg gepressten Öffentlichkeitsperson. Erschrocken oder ernüchtert oder erweicht. Ahnbar wurde, dass aller Politik nur immer ein begrenztes Menschenmaß zugrunde liegt. Das beruhigt und macht doch auch äußerst bang.
»Caren Miosga« steht nicht isoliert in Zeit und Raum. Aber die Sendung wehrt sich natürlich in Ehren gegen das Erbe krachdümmster Nichtigkeiten, die sich uns drei nach neun oder fünf vor zwölf andienen. Ob heißer Stuhl oder kaltes Verhör – nicht wenige Talkshows haben seit Jahren unsere Biologie revolutioniert: durch Fortpflanzung der Dummheit per Banalverkehr. Botho Strauß, böse zuspitzend: »Das Regime der telekratischen Öffentlichkeit ist die unblutigste Gewaltherrschaft: Es lässt keine Köpfe rollen, es macht sie überflüssig.« Das war jederzeit so: Will der Mensch auf kürzestem Weg zu sich finden, muss er, auch wenn er an Ort und Stelle bleibt, den Gang um die ganze Welt wagen. Will er sich schnell verlieren, genügt der direkte Blick in eine Kamera.
Freilich gibt es Erinnerung an andere Beispiele. Etwa Günter Gaus und seine Reihe »Zur Person«. Jahrzehnte her. Gaus hat den (freilich vergeblichen) Traum geträumt von einer ausgleichenden Berührung zweier Öffentlichkeiten, nämlich der aktiven politischen Elite mit der Masse derjenigen, die in Unauffälligkeit gut aufgehoben bleiben dürfen. Weil sie ihre Interessen im repräsentativen demokratischen System sicher gewahrt sehen können. Aus dem trotzigen Vertrauen in die rationale Mündigkeit eines von bösen Zeiten belehrten Staatsvolks entwickelte Gaus seine Zweipersonenstücke. Um eine Seherschaft wach zu halten für ein Wahrheitsgefühl, das sich aus Widersprüchen speist. Wann kehrt das (vielleicht) wieder?
Keine Zeit kehrt übertragbar wieder, kein Muster, kein Modell. Längst wurden aus kantigen Politikgrößen, die einst mit Herzklopfen ein Fernsehstudio betraten, stromlinienförmige Zeitgeistler, die mit allen Wassern des rhetorischen Ausweichmanövers gewaschen sind. Dies erhob in manchen Talkshows die Ideenflucht und die Verächtlichmachung zu ersten Zeichen von Gesellschaftsfähigkeit. Die einen zählen die Opfer, die anderen das Geld, unterm Strich bleibt das Nichts.
Man fragt sich mitunter: wahrhaftige Fernsehgespräche heute? Ist das noch möglich, am Rande dieses Vulkankraters Weltpolitik? Zwischen Ukraine, Nahem Osten und hässlichen Binnenverhältnissen? In denen die groben Keile aufblühen wie Kirschbäume – jeder haut auf jeden, die Feindbilder fallen begeistert aus allen Rahmen. Einmal sagt Habeck, er wolle eine bestimmte ideologische Sprache »raushaben«. So stehen Demonstranten ermutigend auf gegen Rechtsextremisten, plakatieren aber gegen »rechts« – wohl vergessend, dass dies ein wertfreies Synonym für das Konservative ist. Und Demokraten werfen Demokraten laufend vor, den Rassisten zuzuarbeiten – Spaltung ist in der Politik ein geliebter Frevel. Man bekommt Lust, sich von allem abzukehren, was Diskurs heißt.
Der Maßstab freilich bleibt: In jedem besseren Frage-Antwort-Fluss erinnern sich die Beteiligten gegenseitig an ihre intelligenteren Möglichkeiten. Man entdeckt die Freude, navigationsfähig zu sein in einem Problemraum. Im Hin und Her einer guten Gesprächsrunde stelle ich fest, wie viele Meinungen in mir Platz haben. Der Mensch ist komplizierter als jeder gesellschaftliche Konsens, den er befestigen soll. Ist nicht jeder Einzelne eine Anstalt zur Lizenzierung der unvereinbarsten Widersprüche?
Robert Habeck sagt, die Welt sei nicht fair, und »die Stimmung in Deutschland ist Moll. Vielleicht kann ich ein bisschen Dur reinbringen.« Nicht die Ampel überfordere die Menschen, sondern die Zeiten, in denen wir leben. Das ist freilich ein Satz, der schon wieder genügen würde, auf diesen Minister und alle, für die er steht, Feindbild-Geschosse abzufeuern. Er rudert im Eiswasser der ihn zausenden Realitäten, und bei »Caren Miosga« offenbarte er, tief am Boden, eine höhere Wahrheit, und höhere Wahrheiten sind oft die bittersten: Es gibt zwar Lehren und Lektionen, aber neue Erfahrungen kann auch die herrschende Politik gewissermaßen nur blind machen (der Mensch überhaupt, sagt Heiner Müller), und Wissen und Vernunft bleiben da immer bloß eine schwebende Architektur über Abgründen. Man nennt das wohl kaum: gute Aussichten.
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