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Ungefähr wie Malaria
Falsches Denken und Handeln: Ein neues Lesebuch versammelt Texte von Arno Schmidt über den Krieg
Der Zweite Weltkrieg geht seinem Ende zu. Eine kleine Gruppe deutscher Zivilisten ist auf der Flucht vor der vorrückenden Roten Armee. Unter den Richtung Westen Flüchtenden ist auch ein Wehrmachtssoldat. Der sagt zu den anderen: »Wir haben noch was; wir siegen. Der Führer verfolgt eine ganz bestimmte Taktik; erst lockt er alle rein, und dann kommen die Geheimwaffen.« Woraufhin ihm ein Hitlerjunge antwortet, dass auch er auf die »Wirkung der neuen Waffen« hoffe: »Und in drei Jahren ist alles wieder – schöner – aufgebaut. Die Pläne liegen alle fix und fertig beim Führer im Schreibtisch.«
Noch bis in die letzten Kriegstage waren sie weit verbreitet: die Verblendung, der fanatische Glaube an den »Endsieg« und die Obsession, dass der geliebte Führer am Ende die Oberhand behalten und die Deutschen in eine strahlende Zukunft leiten werde.
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Der oben zitierte Dialog zwischen Wehrmachtssoldat und Hitlerjunge findet sich in Arno Schmidts 1946 entstandener Erzählung »Leviathan oder Die beste aller Welten«, der ersten, die von dem damals mittellosen jungen Schriftsteller veröffentlicht wurde. In Buchform erschien sie 1949. Der Ich-Erzähler in »Leviathan«, eine Figur, die erkennbar nach Schmidt selbst modelliert ist, kommentiert den Dialog der beiden schließlich so: »Und so weiter. Und ihre Augen leuchteten wie die Scheiben brennender Irrenhäuser.«
Arno Schmidt (1914–1979) war Soldat der Wehrmacht und 1942 bis 1945 stationiert im besetzten Norwegen, tätig in der Schreibstube. Nach Kriegsende kommt er kurzzeitig in britische Kriegsgefangenschaft. Danach widmet er sich hauptberuflich dem Schreiben.
Das nun erschienene Lesebuch »Es ist also Krieg irgendwo« versammelt erstmals zahlreiche Erzählpassagen aus Schmidts Prosawerk, in welchen es um den Krieg geht. Dessen Begleiterscheinungen und Folgen, inklusive Flucht, Vertreibung und Ost-West-Konflikt, hat der Schriftsteller, dem alles Militärische zeitlebens verhasst war, in den 50er und frühen 60er Jahren wiederholt zum Thema seiner Romane und Erzählungen gemacht. Darunter sind auch einige Dystopien, in welchen die Hauptfiguren Überlebende eines Atomkriegs oder Dritten Weltkriegs sind. Schmidt selbst wollte seine dystopischen Erzählungen auch »als Warnung(en) vor dem nächsten Krieg« verstanden wissen, wie es im aufschlussreichen Vorwort der Anthologie heißt.
Schmidts experimentelle, an der Avantgarde orientierte Schreibweise, mit der es ihm eher um die Wiedergabe von Denkweisen und Zuständen zu tun ist als um das Erzählen einer traditionellen »Handlung«, dürfte seinerzeit verhindert haben, dass seine Arbeiten von einem größeren Publikum zur Kenntnis genommen wurden, doch neben seinem eigenwilligen, an der literarischen Moderne geschulten Stil fällt noch ein weiterer Unterschied auf im Vergleich zu anderen vermeintlich kriegskritischen und hierzulande längst kanonisierten Werken aus der Nachkriegszeit wie etwa Wolfgang Borcherts Drama »Draußen vor der Tür«: Schmidts Erzähler und kauzige Helden verfallen nicht in Selbstmitleid, beklagen nicht in larmoyantem Ton das eigene im Krieg erlittene Schicksal, stilisieren erlebtes Kriegsgeschehen nicht zur einseitigen Opfererzählung, sondern bleiben durchweg unsentimental, behalten Ursachen, politische Zusammenhänge, Schuld und Verantwortung stets im Blick. Der Krieg ist ihnen nicht ein aus heiterem Himmel kommendes, naturkatastrophenähnliches Ereignis, sondern Ergebnis falschen Denkens und Handelns. Sie stellen Werte wie »Heimatliebe« oder »Vaterlandstreue« in Frage und wettern gegen politische und religiöse Autoritäten ebenso wie gegen alte und neue Nazis.
»Ehe Du für dein Vaterland sterben willst, sieh dir s erst mal genauer an!«, warnt der Erzähler in Schmidts 1953 erschienenen Kurzroman »Aus dem Leben eines Fauns« und teilt zugleich mit: »für n Politiker fass ich mich nich an’Hintern!!« Im gleichen Roman legt der Ich-Erzähler seine antimilitaristische Weltsicht dar: »SA, SS, Militär, HJ undsoweiter: die Menschen sind nie lästiger, als wenn sie Soldaten spielen. (Kommt bei ihnen wohl periodisch in jedem Jahrzwanzicht, ungefähr wie Malaria, neuerdings noch schneller).«
Der Pazifist, Pessimist und Atheist Schmidt, der in seinen Romanen auch immer wieder großzügig antireligiöse Polemik unterbringt (»blinde Gefolgschaft scheint immer schwarze Uniform zu tragen«), dürfte sich nie als einen im klassischen Sinne Linken verstanden haben, auch wenn er anfangs in linken Blättern publizierte und überwiegend in versprengten linken Zirkeln gelesen wurde. In den 1950er Jahren engagierte sich der damals unterm Existenzminimum lebende Schriftsteller gegen die Westbindung der BRD und gegen die Wiederaufrüstung. Beide politische Vorhaben betrachtete er als Fehler und implizite Vorbereitungen für einen möglicherweise kommenden Krieg.
Dem teils bis heute wirksamen Mythos von der »Stunde Null«, der verschleiern sollte, dass in Adenauers und Erhards Deutschland nach wie vor die Funktionseliten aus der Zeit des Nationalsozialismus das Sagen hatten, ist Schmidt nie auf den Leim gegangen. Vielmehr befürchtete er, dass betreffs der Mentalität der Bevölkerungsmehrheit nicht der geringste Wandel stattgefunden hat.
In einem Brief an einen Freund, den Maler und Grafiker Eberhard Schlotter, schreibt er 1959: » ›Unser Volk‹ geht nun einmal eben gerade wieder (und geschlossen; es sind halt ›Deutsche‹) um genau dieselbe Kurve wie 1933. Es bescheinigt uns in jeder Wahl, dass es unsere Ansichten nicht nur nicht teilt, sondern diese Ansichten überhaupt gar nicht hören will.« Tatsächlich waren auf dem Höhepunkt des sogenannten Wirtschaftswunders die meisten Deutschen mit dem Verdrängen ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit beschäftigt, während sich ihre politischen Neigungen seit 1933 offenbar kaum geändert hatten. Sie waren nicht froh über die »Befreiung«, sondern beleidigt, dass Hitler den Krieg verloren hatte, und die militärische Niederlage sowie das daraus resultierende eigene Leiden waren im Grunde das einzige, das sie ihm vorzuwerfen hatten. Der einzige Unterschied zu früher war, dass sie, um dem »Bolschewismus« Einhalt zu gebieten, jetzt CDU, FDP und SPD wählten statt der Nazis.
Anders dagegen Schmidt, der an Verdrängung kein Interesse hat, sondern in seinem Werk den fließenden Übergang vom deutschen Faschismus zu einer von lauter ehemaligen Faschisten bevölkerten Demokratie explizit thematisiert. Und der jede Gelegenheit nutzt, in seiner Prosa auf die jüngste Vergangenheit aufmerksam zu machen: »Erzählen Sie mir doch nicht, dass Hitlers stets 98prozentige Wahlerfolge gefälscht gewesen wären: das hatte er gar nicht nötig! Wie sie doch alle Gefallen an Achselstücken und fein ersonnenen Dienstgraden fanden, am dröhnenden Marschtritt und zackigen Gehorchen. (Führer befiehl: wir folgen!: Gibt es etwas Widerlicheres, als diese Bitte um einen Befehl?! Pfui Deubel, Deutsche: Nee!! -)«, so lautet eine Passage in der 1951 publizierten Erzählung »Brand’s Haide«.
Wenn man bedenkt, was Schmidt, neben seinem Antimilitarismus, von der hiesigen zeitgenössischen Kritik alles vorgeworfen wurde: »Es ist die Rede von Nihilismus, Sprachschändung, fehlender geistiger Zucht, pathologischem Gekritzel, sexueller Unflätigkeit«, schreibt der Literaturwissenschaftler Jürgen Doll zur Rezeption von Schmidts Werken in den 1950er und 1960er Jahren. Und auch aus der DDR, wo von »volksfeindlichem Elaborat, Antihumanismus, ja unverständlichem Gelalle und Gestammel« die Rede war, kamen negative Kritiken.
Kein Wunder also, dass der zeit seines Lebens kommerziell erfolglose Schriftsteller nicht nur damals, sondern auch heute gern mit der Phrase vom »großen Außenseiter der deutschen Nachkriegsliteratur« belegt wird.
Arno Schmidt: »Es ist also Krieg irgendwo«. Ein Lesebuch. Herausgegeben von Susanne Fischer und Michaela Nowotnick. Suhrkamp, 264 S., geb., 18 €.
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