Tunesien: Präsident Saied zementiert seine Macht

In Tunesien wird der wichtigste Oppositionspolitiker Rached Ghannouchi erneut verurteilt

Tunesier demonstrieren in London für die Freilassung politischer Gefangener wie Rached Ghannouchi.
Tunesier demonstrieren in London für die Freilassung politischer Gefangener wie Rached Ghannouchi.

Der 82-jährige Rached Ghannouchi ist der prominenteste von rund zwei Dutzend Gegnern von Tunesiens Präsident Kais Saied, darunter ehemalige Minister und Wirtschaftsvertreter, denen 2023 die Vorbereitung einer Verschwörung gegen den Staat vorgeworfen wurde. Dafür wurde Ghannouchi zu einer einjährigen Haftstrafe verurteilt. Nun kommt es für den Sprecher des Parlaments von 2019 bis 2021 noch dicker. Ein auf Korruptionsfälle spezialisiertes tunesisches Gericht hat am vergangenen Donnerstag gegen ihn wegen illegaler Parteifinanzierung zusätzlich eine dreijährige Gefängnisstrafe verhängt. Der ebenfalls angeklagte ehemalige Außenminister Rafik Ben Abdessalem Bouchlaka, wie Ghannouchi aus dem Führungszirkel der moderat-islamistischen Ennahda-Partei, muss ebenfalls für drei Jahre hinter Gitter. Gerichtssprecher Mohamed Zitouna begründete gegenüber dem Radiosender Mosaique FM, die Richter hätten die Vorwürfe der Staatsanwaltschaft wegen »illegaler Finanzierung einer politischen Partei aus dem Ausland« bestätigt. Die Ennahda-Partei muss zudem eine Geldstrafe in Höhe von 1,17 Millionen Dollar zahlen.

Im Ausnahmezustand seit der arabischen Rebellion

2023 hatte Ghannochi öffentlich davor gewarnt, die anhaltende Verhaftungswelle in Tunesien könne zu einer Rückkehr der Gewalt führen. Islamisten hatten Tunesien 2015 durch eine Serie von Anschlägen an den Rand eines Bürgerkrieges gebracht. Europäische Sicherheitskräfte wie die deutsche GSG9 haben seitdem die tunesische Nationalgarde und Armee ausgebildet. Regelmäßig gibt das Innenministerium das Ausheben von »Terrorzellen« bekannt.

Den seit dem Arabischen Frühling fast durchgehend geltenden Ausnahmezustand nutzen die Behörden jedoch auch, um gegen ihre Kritiker vorzugehen. Seit dem Putsch von Präsident Kais Saied am 15. Juli 2021 wurden Dutzende Richter, Politiker und Journalisten wegen Korruption und Hinterziehung verhaftet, eine unbekannte Zahl von Geschäftsleuten steht auf einer öffentlich nicht bekannten schwarzen Liste, immer wieder werden Fälle von durch Behörden untersagten Ausreisen bekannt.

Saied hatte die damalige Absetzung der Regierung von Premier Hichem Mechichi und des Parlaments mit deren Untätigkeit angesichts der weltweit höchsten Corona-Infektionsrate und der größten Wirtschaftskrise seit der Unabhängigkeit begründet. Der Juraprofessor hat in dem ehemaligen Vorzeigeland des Arabischen Frühlings eine Basisdemokratie eingeführt. Politische Parteien hält er für Lobbygruppen reicher Geschäftsleute. Lokale Komitees, gepaart mit autokratischer Machtfülle für ihn selbst sollen vor allem in den verarmten Südwesten des Landes Wohlstand bringen. Wegen der explodierenden Lebensmittelpreise und der grassierenden Korruption glauben nur wenige Tunesier an einen Wandel. Viele Menschen wollen emigrieren. Die Mehrheit der Bürger hält Saied zwar immer noch für einen uneigennützigen Gegner der unbeliebten politischen Elite. Doch an den von ihm organisierten Parlamentswahlen beteiligten sich kaum mehr als zehn Prozent der Wahlberechtigten.

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Ghannouchis Ära ist vorbei

Die politische Laufbahn von Ghannouchi ist mit dem Urteil wohl vorbei, ebenso der Einfluss der Ennahda. Nach dem Sturz von Langzeitdiktator Ben Ali 2011 war die Partei die mächtigste politische Bewegung im Land. Westliche Diplomaten und Medien sahen in Ghannouchi eine moderate Symbolfigur für die Vereinbarkeit von Demokratie und religiös geprägten Politikern. »Muslimische Demokraten« nannten sich die Ennahda-Funktionäre gerne und verglichen sich in Interviews mit den christlich-demokratischen Parteien CDU und CSU. Seine Kompromissfähigkeit gegenüber den politischen Gegnern dürfte tatsächlich das Land vor Ausbruch von Gewalt bewahrt haben. Doch heimlich gefilmte Treffen Ghannouchis mit radikalen Salafisten zeigten eine andere Seite. Ennahda-Funktionäre halfen jungen Tunesiern dabei, in den Kampf gegen Baschar Assad nach Syrien zu ziehen. Dass damit über 3000 Tunesier in den Fängen des Islamischen Staates endeten, haben viele Tunesier Ghannouchi bis heute nicht verziehen. Aus Enttäuschung über Ennahda und den anderen Parteien haben sich viele Menschen aus dem politischen Leben zurückgezogen. Aber auch aus Angst vor Repressalien. So droht der Menschenrechtsaktivistin Chaima Issa eine lange Haftstrafe, weil sie angeblich Armeeangehörige zur Befehlsverweigerung angestiftet hat. Wegen ihrer Äußerungen über die Rolle des Militärs bei den Wahlen im Dezember 2022 wurde sie bereits von einem Militärgericht zu einer zwölfmonatigen Bewährungsstrafe verurteilt. Amnesty International fordert ein Ende der Verfahren gegen Zivilisten vor tunesischen Militärgerichten, die zuletzt üblich geworden sind.

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