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Syrien: Haarscharf am Bürgerkrieg vorbei
Schock für Kurden, Christen und Drusen in Syrien
Die Massaker islamistischer Milizen in der mehrheitlich von Alawiten bewohnten Küstenregion zwischen Tartus und Latakia haben zu Spannungen zwischen den religiösen und ethnischen Gruppen in Syrien und Exilsyrern in Europa geführt.
Nachdem Anhänger des nach Moskau geflohenen Ex-Präsidenten Baschar Al-Assad Kämpfer der islamistischen HTS-Allianz von Übergangspräsident Ahmad Al-Scharaa getötet hatten, marschierten Al-Qaida-nahe Islamisten aus dem Kaukasus und Nordafrika in die Region. Bis jetzt ist es unklar, ob die Radikalen direkt unter dem Befehl Al-Scharaas standen.
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Rache an Alawiten
Da die Regimeanhänger meist schon geflohen waren, geriet der Gegenangriff zu einer Racheaktion zwischen Sunniten und Alawiten. Weil die bis Januar regierende Familie Assad der Minderheit der Alawiten angehört, gelten diese als regimetreu.
»Die Realität ist eine andere«, wendet Lawand Kiki von der Menschenrechtsorganisation »Syria Reporting Center« in Berlin ein. »Die reiche und Assad-treue Elite der Geschäftsleute in Damaskus ist mehrheitlich sunnitisch. Doch ihnen kommt das Abladen der gesamten Schuld für die Verbrechen des Regimes auf die Alawiten gelegen. Sie hoffen dadurch, der Aufarbeitung von Korruption und Vetternwirtschaft zu entgehen.«
Empörungswelle gegen Gewaltexzess
Die Islamisten suchten in Latakia, Tartus und den umliegenden Dörfern nach Regimeanhängern. In selbst gedrehten Videos ist zu sehen, wie sie als Alawiten identifizierte Zivilisten wie Hunde bellen lassen und exekutieren. Die Bilder der Leichen von unbewaffneten Männern, Frauen und Kindern führten zu einer weltweiten Empörungswelle gegen die neue Führung in Damaskus.
Während man in westlichen Hauptstädten daraufhin das bisher moderate Vorgehen von Präsident Ahmad Al-Scharaa infrage stellte, lobten Hunderte Syrer in Europa die Morde auf ihren Facebook-, Tiktok- oder Instagram-Seiten.
Aufarbeitung der Regime-Verbrechen ausgeblieben
»Sie sollen die Alawiten den Fischen im Mittelmeer zum Fraß vorwerfen«, ist noch eine der harmloseren Äußerungen. Für Mordaufrufe wie diese erhielt ein in Deutschland lebender Syrer Hunderte Likes auf seinem persönlichen Profil.
»Die historischen Spannungen zwischen Sunniten und Alawiten wurden durch das Assad-Regime zum eigenen Machterhalt verstärkt«, sagt Kiki. »Nun rächt sich, dass die von Menschenrechtsaktivisten geforderte Aufarbeitung der Verbrechen bisher ausgeblieben ist. Fast jede Familie in Syrien hat Opfer des Assad-Regimes zu beklagen. Der Iran, das Ex-Regime und Radikale nutzen die Frustration für sich aus, um Chaos zu stiften.«
Ganz anders klingt die Version der Ereignisse, die von staatlichen Medien in Damaskus und Präsident Al-Scharaa verbreitet wird: Demnach endete am Dienstag lediglich eine Gegenoffensive, die ehemalige Regimekräfte daran hindern sollte, ganze Landstriche unter ihre Kontrolle zu nehmen. Die Gräueltaten erwähnte Al-Scharaa in einer Fernsehansprache am Montag nicht, doch er versprach, mögliche Morde an der Zivilbevölkerung strafrechtlich verfolgen zu lassen. Mit der Verhaftung von Kommandeuren aus Tschetschenien oder Algerien würde er sich mit radikalen Gruppen seiner HTS-Allianz anlegen, die ihm seine Wandlung vom Gründer Al-Qaidas in Syrien zu einem moderat auftretenden Politiker übel nehmen.
Kämpfer nutzen Kinder für Propaganda
Die Morde haben eine Schockwelle durch die Gemeinden der syrischen Minderheiten gejagt. Kurden, Christen und Drusen fürchten, nun ebenfalls zum Ziel der Radikalen zu werden.
In einem der vielen in sozialen Medien geteilten Videos erklärt ein bärtiger Kämpfer mit einem kleinen Jungen im Arm seine Vorstellung des neuen Syrien. »Die Alawiten werden genauso wie die Schiiten und die anderen Ungläubigen umgebracht, das ganze Land wird sunnitisch«, sagt er und lässt den Jungen einen Mordaufruf an seinen alawitischen Nachbarn skandieren.
Bisher mehr als 1300 Tote
Ein Ingenieur beschreibt dem »nd« am Telefon das Grauen, das in den letzten Tagen über die Kleinstadt Dschabla hereinbrach: »Nach ihrer Ankunft in Panzern und Pick-ups schossen die Radikalen auf die HTS-Sicherheitskräfte im Ort. Mit denen hatten wir ein gutes Verhältnis«, so der Familienvater, der sich zusammen mit seinen Kindern noch immer versteckt. »Zunächst suchten sie gezielt nach alawitischen Männern, erschossen dann aber mitten auf der Straße auch ganze Familien.« Alleine in Dschabla wurden bisher 50 Tote gezählt, insgesamt verzeichneten lokale Behörden bisher mehr als 1300 Tote.
In Videos aus Vororten von Latakia liegen Dutzende von Leichen auf den Straßen. »In unserem Haus lebten Christen, Alawiten und Sunniten«, berichtet eine Studentin dem »nd«. »Nur die alawitischen Familien wurden verschleppt.«
Dennoch kamen am Montag im Zentrum der Stadt mehrere hundert Menschen zusammen, um ein Abkommen zwischen der Regierung in Damaskus und der kurdischen Selbstverwaltung zu feiern. Laut dem vereinbarten Acht-Punkte-Plan sollen in den nächsten Tagen kurdische Einheiten die Kontrolle in Latakia und Tartus übernehmen.
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