- Kultur
- Radikale Linke
Ingrid Strobl und der Wecker: Wenn man nicht fallen gelassen wird
Sie kaufte den berühmtesten Wecker der BRD: Zum Tod der Journalistin und Feministin Ingrid Strobl
Die »6457« sollte keine Glückszahl für sie werden. Dabei handelte es sich um die Seriennummer des wohl berühmtesten Weckers der deutschen Nachkriegszeit. 1986 hatte ihn die damals 34-jährige Ingrid Strobl, Journalistin und Autorin, in einem Laden gekauft – für einen Bekannten, der sie darum gebeten hatte, wie sie damals erklärte. Jedoch wurde dieser Wecker als Zeitzünder bei einem Sprengstoffanschlag der »Revolutionären Zellen« (RZ) auf ein Verwaltungsgebäude des Lufthansa-Konzerns verwendet, bei dem Sachschaden entstand. Mit dem Anschlag protestierten die sozialrevolutionären RZ, neben RAF und Bewegung 2. Juni die dritte bewaffnete Gruppe der BRD, gegen die Abschiebung von Asylsuchenden sowie die Praxis des Sextourismus, die durch Lufthansa-Flüge ermöglicht würden.
1987, ein Jahr nach dem Kauf des Weckers, der vom Bundeskriminalamt präpariert worden war, erkannte ein BKA-Beamter Strobl auf einem Video beim Kauf. Sie wurde daraufhin in ihrer Kölner Wohnung festgenommen und wegen »Unterstützung einer terroristischen Vereinigung« nach Paragraf 129a StGB angeklagt.
Strobl weigerte sich, den Namen des Bekannten zu nennen und blieb in Untersuchungshaft. Dort schrieb sie weiterhin an einem Buch über den Widerstand von Frauen im von NS-Deutschland besetzten Europa, an dem sie bereits vor ihrer Festnahme gearbeitet hatte und schöpfte daraus Stärke. In »Sag nie, du gehst den letzten Weg« (1989) trug sie die Lebensgeschichten von zahlreichen Partisaninnen, Jüdinnen und Kommunistinnen im militanten Widerstand gegen den Nationalsozialismus zusammen. Diese spielten in der damaligen Geschichtsschreibung nahezu keine Rolle. Heute gilt ihre Studie hierzu als zentrale Referenz.
Im Juni 1989 wurde sie zu fünf Jahren Haft verurteilt und blieb bis zum Mai 1990 in Isolationshaft. Nachdem der Bundesgerichtshof das Urteil zunächst aufgehoben hatte, wurde sie in der Revisionsverhandlung 1990 schließlich wegen Beihilfe zu einem Sprengstoffanschlag zu drei Jahren Haft verurteilt.
Als ehemalige Redakteurin der Zeitschrift »Emma« sowie als freischaffende Autorin war Ingrid Strobl zu dieser Zeit bundesweit bekannt. So kam es zu einer breiten Kampagne für ihre Freilassung, die von Alice Schwarzer initiiert worden war. Zahlreiche Prominente unterzeichneten den Appell »Freiheit für Ingrid Strobl«. Zum Prozessbeginn fanden in Köln und in Essen Demonstrationen mit jeweils 10 000 Teilnehmer*innen statt.
In einem Interview, das ich 2020 mit Strobl geführt hatte, erzählte sie, wie wichtig es für Menschen im Gefängnis ist, nicht vergessen zu werden: »Du wirst nicht alleingelassen. Die Solidarität zeigt sich nicht ›nur‹ in wunderbaren Demos und Veranstaltungen, sondern vor allem auch im Dauerhaften: den Besuchen, den Briefen und Büchern, die dir in die Zelle geschickt werden, dem Geld, das auf das Spendenkonto eingezahlt wird.«
Unser täglicher Newsletter nd.Kompakt bringt Ordnung in den Nachrichtenwahnsinn. Sie erhalten jeden Tag einen Überblick zu den spannendsten Geschichten aus der Redaktion. Hier das kostenlose Abo holen.
1952 in Innsbruck geboren, studierte sie Germanistik und Kunstgeschichte in Innsbruck und Wien. Ihre 1978 abgeschlossene Dissertation »Rhetorik im Dritten Reich« deutete bereits auf einen Schwerpunkt ihrer künftigen Arbeiten hin. Aktiv in der Frauenbewegung arbeitete sie zunächst beim ORF und zog dann 1979 nach Köln. Dort war sie bis 1986 bei »Emma« und danach freischaffende Journalistin und Autorin, unter anderem für den WDR.
Es war klar, dass Strobl den Wecker gekauft hatte. Allerdings gestand sie erst 30 Jahre später, dass sie wusste, wofür er verwendet werden würde. In ihrem Buch »Die vermessene Zeit. Der Wecker, der Knast und ich« (2020) erzählt sie davon und von ihrer Zeit in Haft. Im Gefängnis war sie mit einer ihr völlig unbekannten Welt konfrontiert: einer Welt voller Schmerz und Sucht, von Wut und Unterwerfung. Die Geschichten der Frauen im Gefängnis – sowohl von Gefangenen als auch von Schließerinnen – machen ihr Buch sehr anschaulich. Auch in ihren anderen Arbeiten beschäftigte sie sich immer wieder mit Geschichten von Frauen.
Ein weiteres wichtiges Thema in »Vermessene Zeit« war der Antisemitismus in der radikalen Linken, von RAF und RZ – und auch ihr eigener. Strobl gehörte zu den wenigen Protagonist*innen, die sich aktiv mit dieser Geschichte auseinandergesetzt und reflektiert haben.
Es ist vor allem ihre literarisch-historische Recherche »Anna und Anderle« (1995), in der sie ihre eigene Geschichte als linke Antizionistin aufarbeitet – sie war jemand, der »nicht für die Sicherheit der Menschen in Israel garantieren konnte und trotzdem den gerechten Kampf der Palästinenser unterstützte« und hierbei auch »die mögliche Vernichtung Israels« in Kauf nahm, wie sie im Vorwort von »Vermessene Zeit« schreibt. Darin beschäftigt sie auch die »Volksgemeinschaft der Linken« und der »Abgrund unserer Dummheit«.
Diese Überlegungen bleiben aktuell, betrachtet man die antisemitischen Tendenzen in Teilen der deutschen Linken, wenn der Gaza-Krieg diskutiert wird. Ingrid Strobls Reflexionen fehlen nun. Wie erst jetzt bekannt wurde, starb sie am 25. Januar im Alter von 72 Jahren.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.