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Ukraine: Drei Stunden ohne Krieg
In Odessa entfliehen die Menschen mit Kunst und Sport dem bedrückenden Alltag
»Ich habe eine Wohnung mit Blick auf das Meer«, erzählt die 35-jährige Ljudmila. »Früher haben mich alle um die Wohnung mit dieser schönen Aussicht hier in Odessa beneidet. Heute wäre ich heilfroh, wenn ich woanders leben könnte, irgendwo in einer Erdgeschosswohnung. Und so sehe und höre ich immer, wenn wieder mal Raketen vom Meer auf meine Stadt und mein Land zufliegen.«
Ljudmila war vor dem Krieg Managerin für Musikveranstaltungen. Stolz berichtet sie, dass sie auch mal einen Auftritt von Deep Purple in Odessa mitgemanagt hat. Doch das ist lange her, über 15 Jahre. Wie die meisten anderen Bewohner von Odessa auch, versucht Ljudmila im Krieg ein Stück weit Normalität zu leben. Sie geht schon lange nicht mehr in den Luftschutzraum, wenn Luftalarm ist. Und dabei ist sie nicht die Einzige. Diese Kellerräume sind meistens leer, auch wenn draußen die Sirenen heulen. Fast jeden Tag besucht sie ein kulturelles Event, ihre Freundinnen stürzen sich in sportliche Aktivitäten.
Und wieder brennt das Feuer im Kamin
Sie sind schon legendär in der Kunstszene von Odessa, die Literatur- und Musikabende am knisternden Kamin im großen Wohnzimmer der Journalistin, Dichterin, Künstlerin, Managerin Rita Kolobowa. Mindestens einmal in der Woche treffen sich in diesem Raum im Zentrum der Hafenstadt gut dreißig Menschen, um Lieder auf der Gitarre und Gedichte zu hören. Auftreten kann in diesem gemütlichen Raum jeder, der will. In den Werken ist viel von Liebe, von Natur und von Heimat die Rede. Und am Ende werden alle fürstlich bewirtet, mit einem Imbiss und Tee. Wer hier ist, vergisst für drei Stunden seine Sorgen und den Krieg.
Teller und Rand ist der nd.Podcast zu internationaler Politik. Andreas Krämer und Rob Wessel servieren jeden Monat aktuelle politische Ereignisse aus der ganzen Welt und tischen dabei auf, was sich abseits der medialen Aufmerksamkeit abspielt. Links, kritisch, antikolonialistisch.
Flüchten sich die Menschen in Illusionen einer heilen Welt? Die lebendige Rita Kolobowa widerspricht: »Der 24. Februar 2022 war für mich ein Schock. Ich war wie gelähmt. Die ersten Wochen habe ich nur gegessen und gegessen und gegessen – und sehr viele Kilo zugenommen«, sagt die Grande Dame der Künstlerszene von Odessa zu »nd«. In dieser Atmosphäre der Angst seien viele Menschen ihres Umfelds verstorben – an einem Infarkt, an Krebs, an einem Schlaganfall. Und Kinder hätten wieder verstärkt eingenässt. Gleichzeitig habe sich die Gesellschaft zunehmend polarisiert, immer heftiger wurden die Streitereien um Religion, Sprache und die Frage, wer Verwandte in einem Nachbarland hat, sagt Kolobowa.
Kunst als Therapie
Doch dann habe sie sich »Stopp« gesagt. Gerade jetzt sei es wichtig, die Menschen mit der Kunst etwas von ihren Sorgen abzulenken. Was folgte, waren über 200 Kunstveranstaltungen, Literatur- und Musikabende am Kamin und Ausstellungen in der Innenstadt. »Ich war drei Stunden ohne Krieg«, habe ihr ein Zuhörer eines Abends am Kamin anerkennend gesagt. Und ein anderer hatte gemeint, er habe sich in den Tagen danach gefühlt, als würde er fliegen.
Auf die Frage, was denn die Philosophie hinter ihrer seit Februar 2022 verstärkten kulturellen Aktivität sei, meint sie: »Ich will all diesen negativen Gefühlen, diesem Hass etwas Gutes entgegensetzen. Alle Nationen und Völker können friedlich zusammenleben. Es gibt keine Völker, die per se und als Ganzes böse sind.« Rita Kolobowa ist fest davon überzeugt: wer sich im Krieg mit Literatur, Musik und Kunst beschäftigt, kommt mit dem Stress besser klar.
Und so plant sie schon die nächsten Veranstaltungen: Am 14. Februar feiert sie den Valentinstag am Kamin. Danach folgen Ausstellungen, darunter eine, die dem Frühlingsanfang gewidmet ist.
Mit Bewegung Krankheiten vorbeugen
Den Krieg für einen Augenblick zu vergessen, den Kopf ein wenig frei bekommen versuchen die Menschen in der für ihre Lebensfreude berühmten Stadt auch beim Sport. Wer das Studio Fitnesslady Odessa in der Onilowa Straße 18 im Zentrum betritt, fragt sich zunächst, wo er da wohl hingeraten ist. Ist es ein Yoga-Seminar oder ein Club für Extremsport? Völlig in sich versunken sitzt ein älterer Mann mit Pferdeschwanz vor einem Spiegel. Auf seinem Kopf liegt ein Ball, etwas größer als ein Tennisball. Zehn Minuten verharrt er in dieser Position, ohne auch nur einen Augenblick die Balance und damit den Ball auf seinem Kopf zu verlieren. Am anderen Ende des Saales hängt eine Frau mit dem Kopf nach unten in den Seilen und schwingt sich hin und her.
Um Alexander Potapow, den Leiter des Clubs »Sapusk« (Start), bildet sich in der Mitte des Sportsaals ein Kreis. Nach einer Übung zur Atemtechnik stellen sich nun zehn Menschen auf, halten sich an den Händen, summen in Gedanken versunken verschiedene Töne. Und das Besondere dabei: alle stehen sie auf einem Nagelbrett. Nicht alle halten die zehn Minuten durch. Erschöpft setzt sich eine Frau auf einen Stuhl, sie schafft es nicht länger als zwei Minuten.
Beim Sport innere Ruhe finden
Nein, ein gewöhnlicher Fitness-Club wolle man nicht sein, erklärt Alexander Potapow, der dreimal in der Woche in diesem stundenweise angemieteten Sportsaal zwei Dutzend Schüler trainiert. In seinem Club geht es nicht nur um Kraft und Ausdauer. Wichtig sei, Fähigkeiten wie Genauigkeit, Geschwindigkeit, Elastizität und die Koordinierung der körperlichen Bewegungen weiterzuentwickeln. Sinn dieser Übungen sei es, Krankheiten vorzubeugen, den Alterungsprozess zu kontrollieren, das Gehirn zu unterstützen, so der 62-jährige, der derartige Clubs auch in anderen Städten gründen will.
Er trainiere jeden Tag, entweder für sich alleine, oder im Sportsaal. Doch in den Tagen nach dem 24. Februar 2022 war er wie gelähmt, berichtet er. Zwei Wochen habe er überhaupt nicht trainiert. Doch dann habe er verstanden, dass es gerade in einer so schweren Zeit wie in diesem Krieg wichtig sei, regelmäßig zu trainieren. Gerade jetzt müsse man seinen Körper im Griff haben. Zumindest in diesen drei Stunden Training denke er nicht an den Krieg. »Und alle, die bei uns trainieren, verlassen diese Halle mit einer großen inneren Ruhe.«
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