Martin Scorsese: Der den amerikanischen Mythos seziert

Der US-Regisseur Martin Scorsese wird auf der diesjährigen Berlinale mit dem Goldenen Ehrenbären ausgezeichnet

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 6 Min.
Martin Scorsese: ein Virtuose der gemischten Gefühle
Martin Scorsese: ein Virtuose der gemischten Gefühle

Martin Scorsese, 1942 in New York geboren, wächst wie in einer sizilianischen Weltblase auf. Damals, so berichtet der Regisseur, wohnten ganze ausgewanderte Dörfer Süditialiens in einem New Yorker Haus zusammen. Im Nachbarhaus das Nachbardorf – aber zwischen ihnen gab es keinen Kontakt. Die Großeltern sprachen kein Wort Englisch, die Eltern betrieben kleine Läden im Viertel, und nur die Kinder begannen New York zu entdecken, auf ihre Weise. Als umherstreunenden kleinen Italo-Amerikanern misstraute man ihnen – und traute ihnen nur Böses zu. Dieses alles durchdringende Außenseitergefühl prägt die Filme Scorseses bis heute.

Zur Brücke zwischen Italien und Amerika wurde für ihn das Kino. Jeden Sonntagnachmittag lief damals ein italienischer Film in Originalfassung. Da saß dann die ganze Großfamilie vor dem Fernseher, den man bereits hatte, und hing an den Lippen der Schauspieler. Das war die Heimat. Aber nicht mehr greifbar, nur noch ein Schattenspiel aus Licht und Dunkel. Doch von welcher verwandelnden Kraft! Einer von Scorseses schönsten, weil persönlichsten Filmen ist darum die Dokumentation »Meine italienische Reise« von 1999 über das italienische Kino. Eine Liebeserklärung an Vittorio de Sica, Roberto Rossellini, Federico Fellini oder Luchino Visconti. Da wird dieser bedeutende Regisseur zum demütigen Bewunderer. Und dann kam das amerikanische Kino. Darüber hat Scorsese »Eine Reise durch den amerikanischen Film« gedreht, mit gleicher Hingabe.

Diese Reise zeigt, wie er dann doch zum Amerikaner wurde: durch die Western. Die sah er im Kino, vor allem jene von John Ford. Welch Schönheit des Kampfes auf Leben und Tod, trotz der Verderbtheit der Charaktere der meisten Handelnden. Das wurde ein Thema, das er bis zu den Mafiafilmen der Gegenwart immer neu variierte. Als Kind katholischer Eltern, das er trotz aller Rebellion gegen die erzwungene Unterordnung unter die Kirche blieb, hat Scorsese bis heute die Bilder von Madonnen einerseits und Huren andererseits im Kopf, immer blond, geheimnisvoll und unerreichbar für ihn als dunkelhaarigen Sizilianer. So fast schon trashig gezeichnet erscheinen die Frauen in seinen Filmen. Über allem aber thront das einzige weibliche Wesen, das ein Sizilianer auch in New York bedingungslos zu lieben vermag: seine Mutter, die 1997 starb.

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Dieser Regisseur bleibt ein Virtuose der gemischten Gefühle. Das Unbehagen schwingt in allen seinen Filmen mit; worin er begeistert, darin befremdet er auch wieder. Selbst in so gewaltigen Bildepen wie »Gangs of New York«, der 2003 auf der Berlinale lief, bleibt alles Kammerspiel: der Mensch als gefährliche Black Box. In diesem Film behandelt er einen amerikanischen Gründungsmythos: New York als Schmelztiegel der Nation.

Nicht zufällig galten Scorseses Filme in Hollywood bis in die 80er Jahre als »Kassengift«. »Die letzte Versuchung Christi« etwa ließ sich lange Zeit nicht finanzieren, 1988 wurde der Film dann mit einem Minibudget von sieben Millionen Dollar gedreht. Paul Schrader schrieb das Drehbuch und Michael Ballhaus führte die Kamera. Der Film galt religiösen Fundamentalisten aller Couleur als pure Blasphemie. Dabei zeigt Scorsese nur den Todestraum von Jesus am Kreuz. Er sieht ihn darin als Familienvater mit Frau und Kindern, friedlich leben und friedlich sterben. Aber leider kam ihm das Sendungsbewusstsein dazwischen. Der höhere Auftrag, der es ihm verbot, es sich leicht zu machen.

Darin erkennt Scorsese sich selbst: Auch er hätte es einfacher haben können, wenn seine Filme nur weniger abgründig, brutal und desillusionierend wären. Denn mit seinen Filmen verkauft er keine Träume, im Gegenteil: Er zerstört sie. So etwa in »GoodFellas – Drei Jahrzehnte der Mafia« von 1990, für viele der beste Film Scorseses. Hier entschließt er sich, die italienischstämmigen Amerikaner mit ihren »Familien« nicht mehr zu schonen. Was sie als Schutz anbieten, das erscheint nun als gefährliches Mafiaprinzip. Als ebenso mafiöse Parallelwelt präsentiert er dann die Wallstreet, über die er 2013 »The Wolf of Wall Street« drehte, mit Leonardo DiCaprio als Aufsteiger, der für das große Geld jede Menschlichkeit opfert.

2008 war die hochvirtuose Dokumentation »Shine a Light« der Berlinale-Eröffnungsfilm und zeigt einen Martin Scorsese am Rande des Nervenzusammenbruchs. Ein Livekonzert der Rolling Stones soll mitgeschnitten und mit Szenen rund ums Konzert zusammengebaut werden. Aber für Kamera und Licht wäre es wichtig zu wissen, was die Band wann genau vorhat. Doch da spielten Mick Jagger & Co die sadistische Karte. Das werde er schon sehen, das wüssten sie selbst nicht. So musste das Filmteam jederzeit alle möglichen Varianten zugleich parat haben. Ich erinnere mich, dass nach diesem Eröffnungsfilm auch meine Nerven zum Zerreißen gespannt waren. Denn damals zeigte die Berlinale der Presse den Eröffnungsfilm immer erst ganz knapp vor der Festivalpremiere. Hinterher lief ich zu meinem Computer, schrieb, so schnell ich konnte, den Text für den frei gehaltenen Platz in dieser Zeitung. Aber an diesem Tag ging schief, was technisch nur schief gehen konnte – und erst wenige Minuten vor dem ultimativen Druckbeginn lief der Text dann ein. Ist das nun der ultimative Kick? Ein Blick auf Scorsese, der sich selbst in »Shine a Light« in Szene setzt, zeigt: Nein, es ist die Hölle.

In seinem Herzen ist Scorsese auch in seiner Arbeit ein Familienmensch. Das ist bei ihm das Gegenteil eines Mafiapaten, der seine Macht ausspielt. Seit dem Boxerfilm »Wie ein wilder Stier« von 1980 arbeitet er mit der immer gleichen Schnittmeisterin: Thelma Schoonmaker. Und mit Michael Ballhaus, dem Fassbinder-Kameramann, der nach Hollywood ging, drehte er ab 1985 bis zu dessen Tod bedeutende Filme, von »Die Farbe des Geldes« bis »Departed – Unter Feinden« von 2006.

Sein wichtigster Schauspieler bleibt zweifellos Robert De Niro, aufgewachsen in Little Italy in Manhattan. Er spielt die Rolle seines Alter Egos perfekt. Mit ihm in der Hauptrolle hatte er mit »Taxi Driver« von 1976 seinen internationalen Durchbruch. Ein Vietnam-Heimkehrer leidet unter psychischen Störungen und Schlaflosigkeit, beginnt darum, nachts Taxi durch New York zu fahren. Er ist voller Aggression gegen all den Schmutz der Großstadt. Sein innerer Monolog, der uns durch den Film begleitet, ist der eines Attentäters: »Wenn es dunkel wird, taucht das Gesindel auf, Huren, Betrüger, kaputte Siffkranke ... Ich hoffe, eines Tages wird ein großer Regen diesen ganzen Abschaum wegspülen.« Hier wird die Kehrseite der patriotischen Lügen Amerikas bloßstellt: eine Saubermann-Ideologie, die ebenso schockiert wie der Drogensumpf.

Seinem Gangsterthema als Teil der amerikanischer Gesellschaft bleibt Scorsese treu. 2019 in »The Irishman« treffen wir Robert de Niro als greisenhaften Auftragsmörder Frank Sheeran in einem Altersheim wieder. Seine gefährlichen Geheimnisse über den Tod eines Gewerkschaftsführers will er mit ins Grab nehmen. Auch der vorerst letzte Film Scorseses, »Killers of the Flower Moon« (mit Leonardo DiCaprio), hat es in sich. Es geht darin um die Osage, denen in den 1920er Jahren von der US-Regierung ein neues Reservat in Oklahoma zugeteilt wurde. Doch dann entdeckt man dort Erdöl und alle Abmachungen weichen der maßlosen Gier. Es kommt zu einer nicht enden wollenden Mordserie. So taucht der nun über 80-jährige Scorsese wiederum den amerikanischen Mythos vom Land der unbegrenzten Möglichkeiten in blutrote Farbe.

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