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Geschichte des Anarchismus: Jenseits des Parlaments

Den Anarchismus eint seit jeher die radikale Kritik an Partei und Parlamentarismus. Die Studie »Means and Ends« hat dessen Strömungen rekonstruiert

  • Markus Hennig
  • Lesedauer: 7 Min.
Anarchistische Anregung: Beherrscht werden ist ein Problem, das sich mit linker Parteipolitik schwerlich lösen lässt.
Anarchistische Anregung: Beherrscht werden ist ein Problem, das sich mit linker Parteipolitik schwerlich lösen lässt.

Die Arbeit der politischen Parteien scheint verflucht. Immer wieder führt sie zu Enttäuschung und Frustration über jene Parteien, die doch eigentlich für Veränderung und konkrete politische Ziele gewählt wurden. Insbesondere für die Sozialdemokratie scheint dies mittlerweile zum Markenkern geworden zu sein. Die Linkspartei hingegen steht derweil vor ganz anderen Problemen, ihre parlamentarische Arbeit ist als Ganzes bedroht. Angesichts dieser desolaten Lage könnte es naheliegend sein, sich auf außerparlamentarische Formen linker Politik zu besinnen.

Eine Strömung, die bereits früh die Ausrichtung der sozialistischen Bewegung auf den Parlamentarismus und den Staat kritisierte, ist der Anarchismus. Dessen Strategie sollte insbesondere deshalb von Interesse sein, weil seine Theoretiker*innen die möglichen Probleme in der Fokussierung auf bestehende Institutionen bürgerlicher Politik von Anfang an benannten – noch bevor die meisten sozialistischen Parteien überhaupt gegründet waren.

Manche der anarchistischen Kritiken lesen sich geradezu prophetisch angesichts der Entwicklung der parlamentarischen Demokratie zu einer Herrschaft des Sachzwangs und Politikverdrossenheit. Einen guten Einblick in diese Kritiken und den historischen Kontext ihrer Entstehung bietet die Studie »Means and Ends« von Zoe Baker, die im letzten Jahr erschienen ist. Darin wird die Herausbildung des Anarchismus als eigenständige Bewegung des Sozialismus im Zeitraum von 1868 bis 1939 nachgezeichnet. Baker bezieht sich auf bekannte Autor*innen wie Michael Bakunin, Emma Goldman oder Voltairine de Cleyre, während zugleich auch verschiedene besondere Strömungen berücksichtigt werden.

Zentral verhandelt die Studie die Differenzen zwischen Anarcho-Syndikalismus (etwa in Anschluss an Rudolf Rocker oder Émile Pouget) und Plattformismus (anschließend an die Gruppe Dielo Truda um Nestor Makhno), die zu Beginn des 20. Jahrhunderts zunehmend gegensätzliche Antworten darauf entwickelten, wie die Massen für die Revolution begeistert werden könnten.

Der Kern des Anarchismus

Mit ihrer Übersicht zu den revolutionären Strategien des Anarchismus in Europa und in den USA ist Baker eine doch recht außergewöhnliche Leistung gelungen, insofern das Buch ebenso gut als Einführung wie als historische Studie funktioniert. Was den besonderen Reiz ausmacht, ist, dass die Entstehung der politischen Ideen des Anarchismus in ihrem historischen Kontext verortet werden. So erscheinen ebendiese Ideen nicht frei schwebend im Gedankenhimmel, sondern werden als Antworten auf konkrete strategische Probleme der politischen Praxis verständlich.

Beeindruckend ist die Souveränität, mit der Baker die rezipierten Positionen überblickt und in verschiedene Kontexte verständlich einordnen kann. Ein Mangel der Studie ist hingegen die Beschränkung der rezipierten Schriften auf Europa und die USA. Da derartig umfassende Darstellungen aber auch für diesen Raum bisher fehlten, lässt sich nur hoffen, dass dies ein Anfang ist, dem weitere Analysen folgen mögen.

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Dass Bakers Studie eben auch als Einführung in den Anarchismus funktioniert, liegt daran, dass sie die Disparität der Positionen innerhalb der anarchistischen Bewegung ausführlich darstellt und trotz aller Unterschiede immer wieder zu Gemeinsamkeiten zurückkehrt. Das Buch vermeidet es so, sich in einem Allgemeinplatz anarchistischer Einführungen zu verlieren: Dieser lautet meist, dass bereits der Begriff des Anarchismus unklar ist und somit auch eine Einführung diesen nicht definieren kann. Noch bevor man angefangen hat, sich mit dem Anarchismus zu beschäftigen, zerfällt dieser wieder in verschiedenste Strömungen, deren Gemeinsamkeit scheinbar nur in der Verwendung des gleichen Wortes zur Selbstbeschreibung besteht.

Baker dagegen verfolgt den Anspruch, immer wieder auf die gemeinsamen Grundlagen der anarchistischen Theorie zurückzukommen. Zentral dafür ist die von Baker so bezeichnete Theorie der Praxis, die als Kern der anarchistischen Theorie rekonstruiert wird. Demnach basieren die anarchistischen Grundlegungen auf der Annahme, dass das Vermögen zu verschiedenen Tätigkeiten erst durch die Teilnahme an den dafür notwendigen Praktiken ausgeprägt wird. Die Praktiken beeinflussen jene, die daran teilnehmen, und prägen deren Selbstverständnis.

Selbstbestimmt statt nur vertreten

Diese These mag zunächst banal anmuten. Aber in ihrer Einfachheit liegt zugleich ihre Radikalität, wenn sie auf den politischen Bereich übertragen wird. Denn dann besagt sie, dass das Vermögen zu einer basisdemokratischen Lebensform nur in der Teilnahme an ebensolchen Praktiken ausgebildet wird. Mit dieser grundlegenden Annahme wird verständlich, warum Anarchist*innen sich früh gegen die Teilnahme an parlamentarischer Politik verwehrten. In dieser, so ihre Kritik, würden die Beteiligten eben nicht die Formen eines zukünftigen Gemeinwesens einüben, sondern sich vielmehr an die Politik von Stellvertretung und Lobbyismus anpassen.

In der anarchistischen Kritik an der Beteiligung von Sozialist*innen am Parlamentarismus arbeitet Baker verschiedene Begründungen heraus. So tauche selbst unter der Annahme der Möglichkeit der Regierungsbeteiligung das Problem auf, dass die kapitalistische Fraktion jede sozialistische Regierung entweder sabotieren oder gar stürzen würde. Abgesehen davon betonten aber beispielsweise Michael Bakunin oder Élisée Reclus noch bevor die ersten sozialistischen Parteien gegründet sind, dass der Staat kein neutrales Mittel sei, das zu beliebigen Zwecken eingesetzt werden könne. Als hierarchische Organisation stellt der Staat in erster Linie ein Instrument der Herrschaftssicherung der politischen Klasse dar. Im Versuch, die Macht im Staat zu übernehmen, entsteht also die Gefahr, dass sich die Sozialist*innen zunehmend an ebendiese politische Klasse angleichen, statt als ihre Gegner aufzutreten.

Denn die parlamentarische Form der Politik legt eine Problemlösung durch Stellvertretung nahe. Das heißt, die Ausrichtung auf das Parlament würde dazu führen, dass die Arbeiter*innen weiterhin davon abgehalten werden, ihre Probleme selbstbestimmt zu bearbeiten. Stattdessen würden sie sich an politische Repräsentant*innen der Partei richten, sodass diese sich kümmern. Obwohl das Kümmern zwar hilft, die Probleme kurzfristig zu lindern, verfehlt es mittel- und langfristig die Überwindung ebenjener Strukturen der Entfremdung vom politischen Betrieb. Statt damit zu experimentieren, wie die eigenen Lebensbedingungen selbstbestimmt gestaltet werden könnten, professionalisiert sich nur eine kleine Gruppe von Menschen in der Bearbeitung der gesellschaftlichen Probleme.

Erstarrte Einheit

Paradoxerweise liegt in Bakers großer Stärke, nämlich in der Kondensierung verschiedenster Debatten auf einen Konsens, zugleich auch die größte Schwäche des Buches. Der Versuch, dem Anarchismus eine theoretische Einheit zu geben, droht ihn an manchen Stellen erstarren zu lassen. Die Debatten erscheinen zum Teil so, als wären sie ausdiskutiert, um dann zu einer friedlichen Einigung zu gelangen, oder als wären die Differenzen in einer gemeinsamen Praxis ausgeblendet worden. Dabei wäre es gerade interessant gewesen, noch genauer nachzuvollziehen, wie die Zusammenarbeit trotz theoretischer Differenzen stattfinden konnte. Denn besonders an den theoretischen Differenzen entzündeten sich häufig auch die verschiedensten Spaltungen der anarchistischen Bewegung.

Vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen aus der politischen Praxis irritiert die Klarheit und Eindeutigkeit, mit welcher laut der Studie manche Diskussionen anscheinend zu einem Ende gelangt sind. Im besten Fall ermöglicht aber die Betonung der gemeinsamen theoretischen Grundlagen in der Folge eine gemeinsame politische Praxis.

Zumindest bietet das Buch eine fundierte Grundlage für die Diskussion anarchistischer Ideen. Ausgehend von dieser können sich Interessierte weiter in einzelne Debatten vertiefen, für die das Buch wiederum auf reichlich Quellenmaterial verweist. Allerdings ist darauf zu achten, dass der theoretische Überblick nicht in die Einheit der Theorie übergeht. Dies würde im schlimmsten Fall die Diskussion erstarren lassen.

Damit dies nicht geschieht, müssten die Probleme, die in der Theorie auftauchen, als Momente einer problematisch werdenden Praxis verstanden werden. Es müsste nachvollzogen werden, wie die unterschiedlichen Positionen aus unterschiedlichen Perspektiven auf die eigene politische Praxis resultieren und beides in Wechselwirkung zueinander tritt. Der Anarchismus bietet so eine radikale Kritik staatsorientierter linker Politik. Um diese in ihren Grundüberlegungen nachvollziehen zu können, bietet Bakers Studie einen guten Anfang – vielleicht erkennt der eine oder die andere Parteipolitiker*in dabei auch sich selbst.

Zoe Baker: Means and Ends. The Revolutionary Practice of Anarchism in Europe and the United States. AK Press, 488 S., br., 27 $.

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