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Syrien ein Jahr nach dem Erdbeben: Anders hart getroffen
Nicht nur in der Türkei, auch in Nordwestsyrien leiden die Menschen noch immer unter den Folgen des schweren Erdbebens von vor einem Jahr
Ein Jahr, nachdem die Erde bebte, ist die Angst vor dem nächsten Mal immer noch da: »Es hat sich ja nichts geändert«, sagt Mohammed Kunbar, ein Buchhalter, der in Aleppo lebt. Die Telefonverbindung ist wacklig: »Alles hier ist am schwanken, die Infrastruktur, die Häuser.«
Einst war Aleppo eine pulsierende Stadt. Die Altstadt war ursprünglicher, weniger auf Tourismus und Kommerz ausgerichtet als anderswo, es gab ein Nachtleben. Heute ist die gesamte Region im Norden Syriens von Krieg und Zerstörung gezeichnet. Es ist selbst für Einheimische schwer zu sagen, wer gerade welches Gebiet kontrolliert. Die Regierung? Rebellen? Welche und von wem unterstützt?
Nach vielen Jahren des Krieges waren viele Gebäude, die Infrastruktur bereits beschädigt, als in der Nacht zum 6. Februar vergangenen Jahres in der Türkei und im Nordwesten von Syrien die Erde mit einer Stärke von 7,8 auf der Richterskala bebte. Es war eines der stärksten Beben, das jemals in der Region gemessen wurde.
Unmittelbar danach richtete sich das Augenmerk der Medien und der internationalen Gemeinschaft auf die Türkei. Dort kamen die Bilder her, die herzzerreißenden Augenzeugenberichte, die klarmachten, dass etwas sehr Furchtbares passiert war, die immer höher kletternden Opferzahlen. Die Lage in Syrien erschien dabei wie eine Randnote. Die Opferzahlen waren niedriger als jene in der Türkei, wurden auf 6000 bis 8500 beziffert. Auch die Höhe des Gesamtschadens wird mit 14,8 Milliarden US-Dollar auf ein Zehntel der Schäden in der Türkei geschätzt.
Buchhalter Kunbar hält die Zahlen für zu niedrig, und Vertreter der Hilfsorganisation Roter Halbmond sehen das ähnlich: In Syrien würden die Toten nicht gezählt und zentral erfasst. Die Helfer hätten in jenen Tagen vor einem Jahr anderes zu tun gehabt, als Leichen zu zählen. Wer tot war, wurde so schnell wie möglich begraben. Weil die Rettungsdienste komplett überlastet waren und weil Winter war, es stürmte und regnete. Man musste die Menschen vor Seuchen schützen.
Wenn man mit den Menschen, Vertretern der Regierung von Präsident Baschar Al-Assad und der Milizen im Nordwesten des Landes spricht, dann wird schnell klar: Die Menschen in Syrien hat das Erdbeben hart getroffen, nicht härter als jene in der Türkei, sondern anders hart.
»Wir haben hier eben nicht nur mit den Schäden des Erdbebens zu kämpfen, sondern wurden in der miserabelsten überhaupt möglichen Situation getroffen«, sagt Kunbar. Denn zum einen seien viele Gebäude durch die Kämpfe stark beschädigt gewesen. Zum anderen wurden neue Gebäude über Jahre hinweg ohne Kontrolle oder Genehmigung gebaut: »Es gibt ja meist keine Stelle, die einem sagt, was man tun darf und was nicht. Die Leute sind schon froh, wenn sie ein Dach über dem Kopf haben und bauen mit dem, was sie auftreiben können.«
Beim Informationsministerium verbindet man an Minister Boutros Al-Hallak weiter. Im Vereinigten Königreich steht er auf der Sanktionsliste, weil ihm die Verletzung von Menschenrechten vorgeworfen wird. Seine Sicht auf die Dinge ist eine andere: Wortreich betont er die Anstrengungen der Regierung »und unserer Partner Iran und Russland«, das zerstörte Land wiederaufzubauen. Noch umfangreicher beklagt er, »der Westen« und die Oppositionsgruppen, die Teile des Landes auch heute noch kontrollieren, behinderten diese Bemühungen; eine Erzählung, die die Regierung tagtäglich über die streng zensierten Medien verbreiten lässt.
Die Menschen vor Ort erzählen eine andere Geschichte, unabhängig voneinander. Sie berichten, wie Funktionäre als allererste neue Häuser bekämen, während sich die Normalmenschen Baumaterial auf dem Schwarzmarkt besorgen müssen, für völlig überteuerte Preise.
In den Gebieten, die nicht unter Kontrolle der Regierung stehen, deuten indessen alle Aussagen darauf hin, dass die Regierung die Folgen des Erdbebens dazu nutzt, die Milizen über die Menschen unter Druck zu setzen. Indem sie die Einfuhr von Hilfsgütern so schwer macht, wie nur irgendwie möglich, zum Beispiel.
Die Folge: Unmittelbar nach dem Erdbeben kam in vielen betroffenen Gebieten in Syrien überhaupt keine internationale Hilfe an. Während die Menschen versuchten, mit bloßen Händen die Verschütteten freizubekommen, sich Zehntausende aus Furcht vor den vielen Nachbeben in weniger betroffene Region wie beispielsweise den teilweise von kurdischen Gruppen kontrollierten Nordosten retteten, blieben einige wichtige Grenzübergänge für Uno-Hilfslieferungen geschlossen – zum Beispiel al Yaarubijah (kurdisch: Tel Kotscher) zwischen Syrien und dem Irak.
Denn die syrische Regierung besteht darauf, die Einfuhren über alle Übergänge ins Land zu genehmigen, auch wenn sie den Übergang gar nicht kontrolliert. Eine Bedeutung hat das, weil Russland Vetorecht im UN-Sicherheitsrat hat. Deshalb hat man vor Jahren einen Mechanismus entwickelt, der vorsieht, dass Hilfslieferungen über bestimmte Übergänge abzuwickeln sind. Das bedeutet auch, dass Güter über sehr lange Strecken durch Syrien transportiert werden müssen, und die syrische Regierung die Lieferungen in bestimmte Gebiete kontrollieren oder auch blockieren kann.
Eine Regelung, die sowohl von der irakischen Regierung als auch von der Führung der Autonomen Region Kurdistan im Nord-Irak kritisiert wird: »Wir lassen selbstverständlich alle Hilfsgüter über die Grenze nach Syrien,« sagt der irakische Militärsprecher Yahya Rasul: »Aber es kommen ja noch nicht mal Lieferungen.«
Doch die Uno hat mit einem weiteren Problem zu kämpfen: Man braucht Geld, um den Erdbebenopfern zu helfen. Und es gibt viel zu viele Krisen und viel zu wenig Spendenbereitschaft. Man kann nicht mehr alle versorgen. So wird es noch viele Jahre dauern, bis die Erdbebenregion in Syrien wieder aufgebaut worden ist, doch große Hoffnung auf ein richtig gutes Leben hat hier niemand. »Selbst wenn wir die Schäden einigermaßen in den Griff bekommen sollten«, sagt Kunbar: »Wie lange wird es dauern, bis die nächsten Kämpfe uns wieder alles kaputt machen?«
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