- Kultur
- »Sterben« von Matthias Glasner
Berlinale: Wie ein »richtiges« Leben gehen kann
Es wird durchaus gestorben im Film von Matthias Glasner, zentral ist aber die Auseinandersetzung der Lebenden
In den Filmen von Regisseur Matthias Glasner geht es meist ums große existenzielle Ganze. Das birgt freilich die Gefahr, sich zu verzetteln und am Ende mehr Fragen aufgeworfen als Antworten parat zu haben. Auch das ist nicht per se schlecht, schließlich ist genau dies Aufgabe der Kunst. Aber eine gewisse Konsistenz sollte die Fragestellung schon haben. In seinem dreistündigen Epos »Sterben« geht Glasner mit großer Geste der Frage nach, wie wir geworden sind, was wir nie sein wollten, warum wir Lebensentscheidungen treffen, von denen wir im Grunde wissen, dass sie in die Irre führen, weshalb wir auf der beharrlichen Suche nach dem vermeintlichen Lebensglück am Ende immer wieder bei den Prägungen landen, denen zu entkommen wir uns einst vorgenommen hatten.
Während diese Suche in Glasners früheren Filmen wie »Der freie Wille« (2006) eine Drastik entfaltete, die sich hart an der Grenze zum Erträglichen bewegte, kommt »Sterben« filmisch und erzählerisch eher konventionell daher. Im Mittelpunkt steht eine dysfunktionale Familie als Hort der emotionalen Verkrüppelungen, die die beiden Geschwister Tom (Lars Eidinger) und Ellen (Lilith Stangenberg) als Last mit sich durchs Leben tragen. Einen inneren Zusammenhalt gibt es in dieser Familie nicht mehr. Mutter Lissy (Corinna Harfouch) ist im Grunde froh, ihren schwer demenzkranken Mann bei nächstbester Gelegenheit in ein Heim abschieben zu können. Auch ihrem Sohn, der als Dirigent in Berlin lebt, hat sie eigentlich nichts zu sagen. Die Schwester hat sich gleich komplett aus dem Familienverband verabschiedet und verarbeitet ihre Neurosen mit erheblichen Mengen Alkohol.
Glasner hat seinen Film in Kapitel unterteilt, in denen das Geschehen jeweils aus der Sicht eines Familienmitglieds betrachtet wird. Damit versucht er, den vielen parallelen Handlungssträngen eine Struktur zu geben, was bis zur Hälfte der Laufzeit des Films auch einigermaßen funktioniert. Gekonnt breitet er ein Kaleidoskop deutscher Befindlichkeiten vor uns aus; von der Pflegekrise über Einsamkeit als gesellschaftlichen Normalzustand oder das Neuaushandeln von Geschlechterrollen. Zentrale Figur und Bezugspunkt in allen Episoden ist der Sohn und Bruder Tom. Beruflich erfolgreich, mäandert er nichtsdestotrotz durch sein Leben in der Hipster-Blase von Berlin-Mitte, hadert mit seinen Bindungsängsten, und schon bald fällt die berühmte Frage »Was willst du eigentlich?«, gestellt von seiner Assistentin und Teilzeitgeliebten (Saskia Rosendahl). Das ist nun nicht sonderlich neu und originell; Eidinger scheint geradezu festgelegt auf Rollen, in denen Figuren aus der wohlsituierten Mittelschicht in ihren geräumigen Lofts die Sinnfrage stellen und Probleme haben, die viele andere Menschen gerne einmal hätten.
Mit dem Filmtitel legt Glasner – gewollt oder nicht – eine falsche Fährte, denn zwar wird durchaus gestorben in »Sterben«, zentral ist aber die Auseinandersetzung der Lebenden über die Frage, wie ein »richtiges« Leben gehen kann, wenn der Ballast der Herkunft zum Hemmschuh wird und außerdem das traditionelle Modell der Kleinfamilie so überholt und uncool erscheint, zumindest im urbanen Juste Milieu. Zum Schlüsselmoment wird die Szene, in der sich Mutter und Sohn versichern, einander nie wirklich geliebt zu haben und herzlich in gegenseitiger Abneigung verbunden zu sein. Dieser Dialog, der einem den Atem stocken lassen sollte, ist jedoch derart überzeichnet, dass er zur Farce wird und erste Lacher im Publikum ertönen. Unverständlicherweise kippt »Sterben« im weiteren Verlauf zunehmend ins Groteske, was den Fremdschämreflex des Zuschauers aktiviert und das Interesse am Geschehen nach und nach erlahmen lässt. Hat Glasner seinen eigenen Figuren nicht vertraut, dass er sie so überzeichnet agieren lässt? Gewiss hatte er, der auch das Drehbuch verfasste, keine Komödie im Sinn, als er Szenen ersann, die eher an Slapstick denn Drama erinnern und eine Identifikation mit den handelnden Personen arg erschweren. Ein Beweis dafür, wie schmal der Grat zwischen Kunst und Kitsch ist; und das, obwohl Glasner gerade diese Frage in der Figur des Komponisten Bernard (Robert Gwisdek), der an seinen Selbstzweifeln zugrunde geht, im Film thematisiert.
Dass man sich trotzdem nur wenig langweilt, ist dem hervorragenden Schauspielerensemble zuzuschreiben. Wie immer ist es ein Genuss, Corinna Harfouch zuzusehen, in diesem Fall, wie sie die Mutter als vereinsamte, äußerlich gefühl- und empathielose Frau spielt, die mit einem einzigen, wie nebenher gesagten Wort Gewissheiten ins Wanken bringen kann. Solche Rollen scheinen ihr auf den Leib geschneidert, denn eine bis ins Detail hinein ähnliche Figur verkörperte sie bereits in Jan-Ole Gersters Film »Lara« (2019). Lilith Stangenberg spielt den Exzess ihrer Figur hinreißend glaubwürdig, aber die Schwächen des Drehbuchs führen trotzdem dazu, dass sich die einzelnen Handlungsstränge am Ende nicht zu einem Ganzen fügen wollen. Eidinger ist als Schauspieler sowieso (s)eine eigene Kategorie; in »Sterben« beweist er einmal mehr, dass er auch ohne Hilfsmittel auf Kommando weinen kann.
»Sterben«: Deutschland 2024. Regie und Drehbuch: Matthias Glasner. Mit: Lars Eidinger, Corinna Harfouch, Lilith Stangenberg. 183 Min. Termine: Mi, 21.02, 15 Uhr, Verti Music Hall;
So., 25.02., 20.45 Uhr, Colosseum 1
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