- Kultur
- »3 – Ein Leben außerhalb«
Geoffroy de Lagasnerie in aller Freundschaft
Der französische Philosoph plädiert in seinem neuen Buch für Lebensformen außerhalb der heterosexuellen Normativität
Das Verhältnis von Struktur und Individuum ist innerhalb der Sozialwissenschaften seit jeher Gegenstand kontroverser Debatten. Während die Psychologie in aller Regel die Handlungsmacht des Einzelnen in den Vordergrund stellt, pocht die Soziologie darauf, dass nicht wir selbst, sondern die Umwelt uns zu dem macht, wer und was wir sind.
Auch der französische Philosoph und Soziologie Geoffroy de Lagasnerie steht in dieser Tradition. »Wie viele Menschen teilen mit 30 ein Leben, das sie mit 20 auf keinen Fall führen wollten«, schreibt er zu Beginn seines jüngst erschienenen Werkes »3 – Ein Leben außerhalb« und fährt fort: »Sie heiraten, bekommen Kinder, richten sich in einem Einfamilienhaus ein.«
Das stellt für de Lagasnerie ein Problem dar, schränkt es doch die Handlungsspielräume der Menschen in einer sich selbst als frei und emanzipiert verstehenden Welt erheblich ein. Die altbekannten Pfade der Ehe und Familie und der mit ihnen assoziierten Folgewirkungen führen ihm zufolge zu einer derartigen geistigen Verstümmelung und Fantasielosigkeit, dass der Familienbund am Ende oft alternativlos erscheint.
Doch keine soziale Struktur ist allumfassend. Immer wieder bieten sich Nischen der Revolte, Verweigerung, Dissidenz. Das kennt de Lagasnerie bestens, denn wie der etwas pathetisch anmutende Titel seines Buches bereits verrät, führt er »ein Leben außerhalb«, was in diesem Falle meint: außerhalb der heterosexuellen Matrix. So hat Judith Butler die auf der geschlechtlichen Binarität aufbauende Institution der Ehe einst genannt.
Doch allein lebt de Lagasnerie deshalb nicht. Stattdessen führt er eine sein Leben bestimmende und strukturierende freundschaftliche Dreiecksbeziehung mit seinem Liebespartner, dem Soziologen und Erfolgsautor Didier Eribon (»Rückkehr nach Reims«), sowie dessen Schüler und engen Freund Édouard Louis, der ebenfalls Autor mehrerer Bestseller ist (»Das Ende von Eddy«). In den sozialen Medien lassen die drei Protagonisten interessierte Schaulustige bereits umfassend an ihrer Beziehung teilhaben. Nun hat de Lagasnerie seinen beiden Lebensfreunden ein Buch gewidmet.
Die darin detailreich skizzierte Beziehung der drei schwulen Männer zeigt, dass Queersein bei allem Schmerz, der insbesondere im Laufe der Adoleszenz damit verbunden ist, auf lange Sicht immer auch eine Möglichkeit der Dissidenz und Solidarität darstellt. Steht am Anfang des Coming-outs nicht selten der soziale Ausschluss aus allem, was man landläufig für die Normalität hält, bietet die sexuelle Devianz im Laufe der Zeit zugleich die Möglichkeit, die Pfade der Normativität zu verlassen und neue Wege der sozialen Beziehungen zu erkunden.
Wie schon Eribon in seinen Büchern oszilliert auch de Lagasnerie in »Ein Leben außerhalb« stets zwischen geisteswissenschaftlicher Theorie und der eigenen Biografie, die immer wieder in Bezug zueinander gesetzt und diskutiert werden. Ob Sartre, Bourdieu, de Beauvoir, Foucault, Freud, Derrida oder Aristoteles: Ihre Theorien werden alle im Laufe des Textes auf die dem Buch zugrunde liegenden Fragestellungen angewendet.
So einleuchtend viele Grundimpulse des Buches dabei scheinen mögen, so sehr erschöpfen sie sich doch oftmals in einer dualistischen, unterkomplexen Gegenüberstellung von Freundschaft oder Ehe, Kindererziehung oder selbstbestimmtem Leben, Boheme oder Bürgerlichkeit, ohne zu fragen, ob nicht auch beides in Einklang miteinander zu bringen ist.
Dabei ist ihm gar nicht zu widersprechen, wenn er etwa beklagt, dass es auch heute noch die Regel ist, dass Freundschaften de facto beendet werden, sobald Kinder in die Welt gesetzt wurden. Doch unterschlägt er dabei zugleich die Vielfalt von möglichen Erziehungsmodellen, die das Potenzial haben, das Mutter-Vater-Kind-Gerüst ins Wanken zu bringen und zugleich neue Familien- und Erziehungsstrukturen zu etablieren.
An anderer Stelle beklagt er die Ungleichbehandlung von Freundschaft und Elternschaft und führt als Beispiel an, dass man sich zwar für ein krankes Kind, nicht aber für einen kranken Freund beim Arbeitgeber krankmelden dürfe. Das irritiert, da de Lagasnerie hier Äpfel mit Birnen vergleicht: Denn bei aller Empathie für den kranken Freund kann in der Regel davon ausgegangen werden, dass dieser auf basaler Ebene für sich selbst sorgen kann, was bei Kindern nicht der Fall ist.
Stellen wie diese offenbaren eine gewisse Larmoyanz, die die zu begrüßende Grundstoßrichtung des Buches immer wieder torpediert. Die theoretischen Ausführungen, die Schilderungen gemeinsamer Nachmittage in Pariser Cafés oder von Diskussionen neuer Buchprojekte lesen sich zwar angenehm und anregend, können aber zugleich nicht über die strukturellen Unzulänglichkeiten des Buches hinwegtäuschen.
Geoffroy de Lagasnerie: 3 – Ein Leben außerhalb. A. d. Frz. v. Andrea Henninger. S. Fischer, 208 S., geb., 26 €.
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