Russland: Krieg als Geschäft

Russlands Kapitalismus hat die Wirtschaft entpolitisiert, die sich wenig für den Ukraine-Krieg interessiert

  • Fedor Agapov
  • Lesedauer: 5 Min.
Der russische Staat hat seine Wirtschaft unter Kontrolle. Freiheiten gibt nur solange, wie diese sich nicht politisch einmischt.
Der russische Staat hat seine Wirtschaft unter Kontrolle. Freiheiten gibt nur solange, wie diese sich nicht politisch einmischt.

Als die Sowjetunion 1991 ein Fall für die Geschichtsbücher wurde, endete damit auch der Versuch, dort den Sozialismus aufzubauen. Das Gefühl des Wettlaufs mit dem Westen ließ Moskau jedoch nicht los, und der Kreml nahm ein weiteres Großprojekt in Angriff. In kürzester Zeit sollte ein kapitalistisches System im Lande etablieren werden, mit dem das Land ein vollwertiges Mitglied der Weltwirtschaft werden würde.

»Fürchte dich vor deinen Wünschen, denn sie könnten wahr werden«, lautet eine weit verbreitete Weisheit, die am treffendsten die Einführung des Marktes in Russland beschreibt. In den 1990er Jahren hat Moskau die öffentliche Kontrolle über eine große Zahl von Unternehmen aufgehoben und das Eigentum in private Hände gegeben. Russland hat Zugang zu ausländischen Produkten und dem Weltmarkt erhalten. Und es ist ein Teil davon geworden. Allerdings mit einer kleinen Nuance: Niemand diskutierte genau darüber, welcher Teil dieser Welt Russland werden könnte. Und wenn das ursprüngliche Ziel darin bestand, sich in den Bereichen Wohlstand Großbritannien oder beispielsweise Deutschland anzunähern, wurde Moskau dank seiner Betonung des Exports natürlicher Ressourcen am Ende zu so etwas wie ein Venezuela an der europäischen Peripherie.

Kapital und Ressourcen sind in Moskau konzentriert

Die Folge des Kapitalismus, der sich in Russland etabliert hat, sind die vollständige Zentralisierung der Macht und der Ressourcen in Moskau, die Unterdrückung von Dissidenten und die Entpolitisierung eines Großteils der Bevölkerung. Letzteres machte es extrem schwierig, Proteste und andere kollektive Aktionen im Land zu organisieren. Dies führte dazu, dass es der russischen Zivilgesellschaft nicht gelang, einen wirksamen Protest gegen Putins Entscheidung zu organisieren, die Ukraine anzugreifen.

Teller und Rand – der Podcast zu internationaler Politik

Teller und Rand ist der nd.Podcast zu internationaler Politik. Andreas Krämer und Rob Wessel servieren jeden Monat aktuelle politische Ereignisse aus der ganzen Welt und tischen dabei auf, was sich abseits der medialen Aufmerksamkeit abspielt. Links, kritisch, antikolonialistisch.

Nach dem Zusammenbruch der UdSSR sah sich der Kreml in den 90er Jahren laut dem Politikwissenschaftler Wladimir Gelman mit einem »Dilemma der Gleichzeitigkeit« konfrontiert – der Notwendigkeit, parallel die Aufgaben der Demokratisierung, der Marktreformen und der Veränderung der nationalstaatlichen Struktur des Landes anzugehen. Im Gegensatz zu den meisten ehemaligen Sowjetrepubliken, die ihre Staatlichkeit praktisch von Grund auf neu organisieren und neue politische Institutionen schaffen mussten, hatte Moskau das »Glück«, den Kern der sowjetischen Strukturen zu erben, die viel schwieriger zu beseitigen waren. Ihre »kosmetische Reparatur« war jedoch ausreichend für eine relativ stabile Regierung. Unter Präsident Boris Jelzin gab die Regierung die politischen Reformen auf und konzentrierte sich ganz auf ihre eigene Bereicherung durch den Aufbau eines Marktsystems. Putin setzte diese Linie dann fort.

Geld ist der Maßstab des Erfolgs

Dafür hat Moskau die Regionen schrittweise ihrer politischen Unabhängigkeit beraubt und die Oligarchen unterworfen, um die Geldströme innerhalb des Landes zu zentralisieren und die zuvor verschlossenen regionalen Märkte zu öffnen, in die schon bald russlandweit agierende Unternehmen eindrangen. Gleichzeitig führte der Kreml Wirtschaftsreformen durch und senkte die Steuersätze, was die Steuereinnahmen in den zuvor verschlossenen Regionen erhöhte. Denn unter diesen Bedingungen erwies es sich für viele Menschen als profitabler und einfacher, Steuern zu zahlen, als im Schattensektor zu bleiben.

Gleichzeitig begann das Land selbst, eine kapitalistische Philosophie nach US-amerikanischem Vorbild zu übernehmen, getreu dem Motto: »Wenn ihr so klug seid, warum seid ihr dann so arm?« Der Maßstab für jeglichen Erfolg wurde das Geld, während das Ansehen der Arbeit in Fabriken oder in Bildung und Wissenschaft dramatisch gesunken ist. Der Höhepunkt dieser Entwicklung war ein Auftritt des damaligen Ministerpräsidenten Dmitri Medwedew. Auf die Frage nach den niedrigen Gehältern von Lehrern entgegnete er, sie könnten »in die Geschäftswelt gehen«, wenn sie mehr Geld wollten.

Russische Bürger sind entpolitisiert

Es ist diese Kombination aus Autoritarismus und einem mehr oder weniger funktionierenden Markt mit einem großen Anteil des Staates an der Wirtschaft, die den modernen russischen Bürger hervorgebracht hat. Er ist ein entpolitisiertes, aber unternehmerisch denkendes Individuum, das sich auf sein eigenes finanzielles Überleben konzentrieren muss und die politische Realität um sich herum völlig ignoriert. Das Gleiche gilt für die Wirtschaft, für die jede Erschütterung, auch ein Krieg, eine Chance für neue Spieler ist. Die wichtigste Regel dabei: Halte dich aus der Politik raus.

Während die Regierung in den Bereichen der Politik will, dass die Bevölkerung maximal passiv bleibt, ist es in der Wirtschaft genau umgekehrt. So waren es laut dem Medienkonzern Bloomberg die Aktivitäten der Unternehmer, die der russischen Wirtschaft halfen, einen Zusammenbruch wegen der Sanktionen nach dem Beginn des Krieges mit der Ukraine zu vermeiden. Zuvor mussten die Unternehmen in Russland nur Angriffe des eigenen Staates vermeiden, nun sind Restriktionen aus anderen Ländern hinzugekommen – aber die russischen Unternehmer haben das bisher erfolgreich bewältigt.

Das ist vielleicht der Erfolg von Putins Kapitalismus: Indem er die Quellen des enormen Reichtums unter die Kontrolle des Staates genommen und den Rest der Wirtschaft dem Wettbewerb des Marktes überlassen hat, kreierte er ein System, das für ihn ziemlich effektiv ist. Es ist ihm gelungen, die Loyalität der Polizei, der Armee und der Eliten auf korrupte Weise zu erhalten. Gleichzeitig kämpft der arbeitende Teil des Landes, die Politik ignorierend, unter Bedingungen enormer Ungleichheit ums Überleben. Und der aktivste Teil der Bevölkerung – die Unternehmer – unterstützt den Kreml finanziell, indem er unter den Sanktionsbedingungen kreative Lösungen für die Betriebe findet. Während für einige der Krieg in der Ukraine eine zusätzliche Quelle des Wohlstands ist, so ist er für die anderen einfach nicht existent.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

Vielen Dank!