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Schuldenschnitt für BRD: Das »Wirtschaftswunder«, das keines war
Vor 71 Jahren wurde der Bundesrepublik ein Großteil der Staatsschulden erlassen – der wahre Grund für das deutsche »Wirtschaftswunder«
Der Bundesrepublik Deutschland wird oft eine gar wundersame Leistung zugeschrieben: Nach dem Grauen des Faschismus und des Zweiten Weltkrieges sei es, entgegen aller Widerstände, eigenhändig gelungen, die Wirtschaft innerhalb kürzester Zeit wieder auf Trab zu bringen. Diese Phase des starken Wachstums im bundesdeutschen Nachkriegskapitalismus wird von verschiedenen Akteur*innen immer wieder in ihrer Einzigartigkeit und ihrem Charakter als »Wirtschaftswunder« gefeiert. Gewerkschaften und Sozialdemokrat*innen betonen gerne die zentrale Rolle organisierter Arbeiter*innen in diesem Prozess, Feminist*innen pochen auf den Beitrag der Trümmerfrauen und Kapitalist*innen zelebrieren die heilende Wirkung der Einführung der freien Marktwirtschaft. Was aber, wenn Deutschlands Wirtschaftswunder nicht auf eigener Leistung, sondern vor allem auf US-amerikanischer Geopolitik und fehlender Entnazifizierung beruht? Vieles spricht dafür.
Undenkbarer Schuldenschnitt
Am 27. Februar 1953, also vor ziemlich genau 71 Jahren, beschlossen die USA, Kanada, das Vereinigte Königreich, Frankreich, aber auch Ceylon, Südafrika und Pakistan in London eine umfassende Staatsschuldenstreichung für das vor kurzem noch faschistische Deutschland. Im Zuge dieser Vereinbarung wurden die Schulden der Bundesrepublik von 32,3 Milliarden D-Mark auf 14,5 Milliarden zusammengestrichen. Vorangegangen waren diesem Beschluss Jahre diplomatischer Bemühungen, die 1949 im Zuge der Gründung der westdeutschen Bundesrepublik begannen.
Zur Gründung der Republik bekannte sich diese zu den angehäuften Schulden und versprach deren Rückzahlung, die im Faschismus ausgesetzt worden war. Das Versprechen wurde 1951 von Konrad Adenauer zwar erneuert, die Ausarbeitung eines Plans zur Rückzahlung wurde von ihm aber an zwei Bedingungen geknüpft: Die Rückzahlung müsse das Ziel einer Normalisierung der wirtschaftlichen Beziehungen der BRD mit anderen Staaten verfolgen und zugleich die ökonomische Position Westdeutschlands in besonderem Maße berücksichtigen.
Die noch junge Bundesregierung formulierte klare Konditionen für den Wiederaufbau Westdeutschlands. Neben den beiden formulierten Prämissen erklärte Adenauer, dass die Bundesrepublik nicht die Begleichung aller Staatsschulden übernehmen werde. Zwar würde Verantwortung für die Schulden der Zwischenkriegsjahre, für die Rückzahlung an in Deutschland lebende Kreditgeber*innen sowie die Schulden der österreichischen Regierung in der Zeit des Anschlusses und Kredite aus dem Marshall-Plan übernommen – explizit ausgeschlossen wurden jedoch Rückzahlungen von Krediten an außerhalb der BRD wohnhafte private Kreditgeber*innen, also auch Juden und Jüdinnen, die vor dem Faschismus geflohen waren. Ebenso stellte die Regierung Adenauer klar, dass sie im Rahmen der Verhandlungen Forderungen über durch die Nazis verursachten Schäden und Leid nicht anerkennen werde. Diese Weigerung wurde nicht vergessen und wird heute unter anderem in Polen auch von Rechten repolitisiert.
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In London wurden dann 1953 schlussendlich die Konditionen für die Rückzahlungen festgelegt. Neben der bereits erwähnten Streichung von über der Hälfte der von Westdeutschland anerkannten Schulden wurde auch ein Großteil der eigentlich real zu leistenden Zinszahlungen gestrichen. Die Schuldenstreichung allein war – vor allem in Kombination mit dem Marshall-Plan – bereits eine wahrhaft wundervolle Wachstumsspritze für die deutsche Wirtschaft. Zusätzlich wurden die Bedingungen für die weiteren Rückzahlungen äußerst vorteilhaft gestaltet. Die Tilgung der übrigen Schulden sollte niemals mehr als fünf Prozent der jährlichen deutschen Exporterlöse verschlingen – ein verschwindend geringer Anteil.
Ferner wurden die zu leistenden jährlichen Rückzahlungen bereits vorab festgelegt. Und auch gegen einen möglichen Einbruch der deutschen Wirtschaftsleistung wurde sich im Abkommen abgesichert: Sollte das Wirtschaftswachstum hinter den getätigten Prognosen zurückbleiben, könnte unbürokratisch und ohne größere Formalitäten eine weitere Vertagung der Rückzahlung vereinbart werden.
Transatlantische Verhätschelung
Das i-Tüpfelchen in diesem Prozess ist eine weitere Vereinbarung der West-Alliierten, bis zur Stabilisierung der BRD keine Güter in diese zu exportieren, die in Westdeutschland auch lokal produziert werden konnten. Es wurde also bewusst auf einen Wachstumsmarkt mit hohen Absätzen verzichtet – im Kapitalismus scheinbar undenkbar. Ginge es nicht um geopolitische Interessen. Denn so viel ist klar: Nichts als reine Geopolitik der West-Alliierten war entscheidender Treiber des betreuten kapitalistischen Erwachens Westdeutschlands.
In der Geschichte des Kapitalismus kam vorher und seitdem nie wieder einem Staat eine derart privilegierte wirtschaftspolitische Behandlung zugute. Im Namen der Blockkonfrontation wurde die junge BRD vom großen transatlantischen Bruder aufgepäppelt, um als Bollwerk gegen die Bedrohung aus dem Osten zu dienen. Und der Plan ging mehr als auf. In den Jahren nach der Schuldenstreichung wuchs die westdeutsche Wirtschaft im Schnitt um gut sieben Prozent. Zum Vergleich: Das entspricht grob dem durchschnittlichen Wirtschaftswachstum der Volksrepublik China in den Jahren 2010 bis 2020.
Allein durch die Schuldenstreichung wurden aktuellen Berechnungen zufolge mindestens 17 Prozent des deutschen Wirtschaftswachstums ermöglicht – dazu kommen noch die Vorteile durch die sehr förderlichen Konditionen für die übrigen Rückzahlungen sowie weitere Wirtschaftshilfen. Man kann also getrost folgern: Die BRD wäre ohne die Schuldenstreichung und die Tätschelung durch die USA nicht in der wirtschaftlich dominanten Position, in der sie sich heute befindet. Der europäische Kapitalismus hätte vermutlich eine andere Ausformung gefunden.
Das gilt insbesondere, da die westdeutsche Industrie noch von einem weiteren Vorteil profitierte: Die so gerne proklamierte Entnazifizierung der deutschen Wirtschaft fand nie wirklich statt. Wie Zachary und Katharina Gallant in ihrem Buch »Nazis All The Way Down« nachzeichnen, profitieren bis heute die allermeisten deutschen Großunternehmen von ihrem wirtschaftlichen Erbe aus dem Faschismus. Die Kontinuitäten wurden nie gebrochen. Profite aus Enteignung und Zwangsarbeit, vor allem von Juden und Jüdinnen, aber auch von Sinti*zze, Rom*nja, rassifizierten, behinderten, queeren, linken Menschen und anderen sogenannten Delinquent*innen, die im NS interniert wurden, sind bis heute Kern des deutschen Wohlstandes. Die deutsche Industrie konnte, so ihre Produktionsmittel nicht zerstört wurden, zügig von Kriegs- auf Normalwirtschaft umstellen und von der behutsamen Reintegration in den globalen Kapitalismus profitieren.
Wider das deutsche Ego
Das Märchen vom deutschen Wirtschaftswunder ist also vor allem das: ein Märchen. Das starke Nachkriegswachstum des deutschen Kapitalismus ist in großen Teilen auf die Schuldenstreichung, günstige Rückzahlungskonditionen, protektionistische Wirtschaftspolitik sowie Kontinuitäten aus dem Faschismus zurückzuführen. Vertreter*innen Deutschlands täten also gut daran, in internationalen Debatten über Erinnerungspolitik und Schuldenstreichungen bescheidener und geschichtsbewusster aufzutreten. Denn: Die Entnazifizierung Deutschlands ist gescheitert – wie wir heute mit einem Blick auf den erstarkenden Faschismus bitter anerkennen müssen. Das deutsche Erinnerungstheater, das ohne ernsthafte materielle Konsequenzen verbleibt, sollte nicht als zentrales Beispiel gelungener Aufarbeitung gepriesen werden. Der am 4. Februar 2024 verstorbene Präsident von Namibia, Hage Gottfried Geingob, fand dafür treffende Worte: Täter sind schlechte Richter.
Aus der deutschen Wirtschaftsgeschichte allerdings können wir lernen: Schuldenstreichungen sind möglich und ein starkes Mittel zum Aufbau einer eigenständigen und starken Wirtschaft. Das deutsche Pochen auf die Einhaltung strikter Schuldenregeln in der EU sowie die Weigerung auf internationaler Ebene, und vor allem für den Globalen Süden, Schuldenschnitte zu erwirken, ist an moralischer Verkommenheit und Geschichtsvergessenheit kaum zu überbieten. Der deutsche Staat verdankt seine heute äußerst komfortable Situation im internationalen Schuldensystem einem historischen Zufall und nicht den hehren moralischen Qualitäten eines unter Spardiktats geführten Finanzministeriums.
Was für die junge BRD möglich war, muss heute für den Globalen Süden gelten. Im Gegensatz zu den Schulden Deutschlands, die selbständig aufgetürmt wurden, sind die Schulden des Globalen Südens das Erbe kolonialer Ausbeutung. Und es gibt viele gute Gründe für eine Schuldenstreichung im Globalen Süden: selbstbestimmte Entwicklung, Abkehr von der Förderung fossiler Rohstoffe, Reduzierung der Zahl bewaffneter Konflikte – um nur einige zu nennen. Nur im Gegensatz zu 1953 steht eine Schuldenstreichung heute den Interessen der Herrschenden entgegen. Ein Hindernis, aber ein überwindbares.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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