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Iran vor der Wahl
Bevölkerungsmehrheit im Iran wünscht sich Reformen und vor allem mehr Freiheiten
Die Proteste sind niedergeschlagen. Traurig fühle sie sich dennoch nicht, schreibt eine junge Iranerin per Messenger: »Wir haben unsere Wege des Widerstands gefunden.« Hier ein paar Haare gezeigt, dort mal mit dem Freund Händchen gehalten. Jede Geste könne eine Form des Protests sein. Doch allen, die dazu bereit sind, sich aus dieser Diktatur zu Wort zu melden, die versucht, selbst die Persönlichkeit zu kontrollieren, ist klar: Es wird sich erst mal nichts ändern – doch die Hoffnung ist geblieben.
Und sie zeigt sich in den Zwischentönen, in kleinen, marginal wirkenden Informationen. Am Freitag werden im Iran Parlament und Expertenrat neu gewählt. Letzterer ist ein Gremium aus 88 Klerikern, die der Verfassung nach das Staatsoberhaupt kontrollieren sollen, theoretisch gar absetzen können. Vor allem aber sollen sie einen Nachfolger wählen, wenn der Amtsinhaber zurücktritt oder stirbt.
Der reine Prozess des Wählens ist im Iran frei und unabhängig. Jeder hat eine Stimme, die geheim ist und frei. Aber wer kandidieren will, muss vorher die Genehmigung des Wächterrats erhalten. Dessen Entscheidungen sind je nach politischer Wetterlage mal mehr, mal weniger streng. So wurde bei den Wahlen 2016 eine große Zahl an Personen durchgewunken, die den Reformern zugerechnet wurden, also jener Gruppe, die für eine Öffnung zum Westen und Änderungen an den Strukturen der Islamischen Republik eintritt. In innenpolitischen Fragen hingegen gibt es zwischen den einzelnen Personen extreme Unterschiede.
Teller und Rand ist der nd.Podcast zu internationaler Politik. Andreas Krämer und Rob Wessel servieren jeden Monat aktuelle politische Ereignisse aus der ganzen Welt und tischen dabei auf, was sich abseits der medialen Aufmerksamkeit abspielt. Links, kritisch, antikolonialistisch.
Wichtig zu wissen ist dabei, dass Staatsoberhaupt Ajatollah Ali Khamenei zwar theoretisch das letzte Wort in allen Fragen hat. In der Praxis wirken er und sein Apparat aber eher im Hintergrund, zum Beispiel über die Auswahl der Besetzung des Wächterrats, durch die dann die Besetzung von öffentlichen Ämtern gesteuert wird. Das Tagesgeschäft wird von der Regierung erledigt. Bei Gesetzesvorlagen hat Ajatollah Khamenei offiziell eine beratende Funktion, danach schaut dann der Wächterrat drauf; und am Ende muss die Vorlage durchs Parlament. Das gleiche gilt, wenn aus dem Parlament heraus Entwürfe eingebracht werden.
Und zu erledigen wäre einiges: In vielen Regionen des Landes herrscht Wasserknappheit, die Luftverschmutzung ist vielerorts im wahrsten Sinne des Wortes atemberaubend, die Wirtschaft liegt am Boden, die Armut ist gigantisch. Die Regierung von Präsident Ebrahim Raisi hat versagt. Unpopulär war er schon immer: Bei seiner Wahl Mitte 2021 erhielt er zwar 72 Prozent der abgegebenen Stimmen, aber das waren weniger als 40 Prozent der Gesamtwählerstimmen.
Im Iran ist so etwas kein technisches Detail: Wahlbeteiligungen sind traditionell hoch, weil man die wenigen Freiheiten, die man hat, auch nutzt. 2021 hatte der überwiegende Teil der Bevölkerung entschieden, keinen der damaligen Kandidaten zu unterstützen – und damit auch einen Hinweis darauf geliefert, wie groß die Unterstützung für den harten Kern der Islamischen Revolution überhaupt noch ist: Raisi war in den 80er Jahren einer der überzeugtesten Gefolgsmänner von Ajatollah Ruhollah Khomeini.
Denn auch das ist der Iran heute: Eine große Bevölkerungsmehrheit wünscht sich Reformen, eine Öffnung nach Westen, vor allem aber mehr Freiheiten. Dem gegenüber steht die extrem konservative Bevölkerung auf dem Land, aus der sich auch die Revolutionsgarden rekrutieren, die das Regime mit Gewalt stützen und deren Führung zum weiteren Machtfaktor herangewachsen ist.
Auffällig ist allerdings, dass sowohl Raisi als auch Parlamentssprecher Mohammad Bagher Qalibaf nicht in den Wahlkreisen ihrer Heimatorte antreten, sondern in anderen, extrem konservativen Regionen. Dies ist normalerweise ein Zeichen für einen Mangel an Unterstützung.
Vor den Wahlen 2016 und 2020 hatten die Reformer versucht, den Wächterrat durch eine extrem hohe Zahl an Kandidaturen zu überwältigen. Der Gedanke dahinter: Je mehr einen Antrag stellen, desto weniger genau kann das Gremium hinschauen. Am Ende durften 2016 dann 6000, 2020 sogar 8000 Personen kandidieren. Dieses Mal sind es jedoch 15 200 Kandidaten, die sich um die 290 Parlamentsmandate bewerben, darunter sind rund 1700 Frauen, mehr als doppelt so viele wie 2020.
Sicher ist: Ein solch drastischer Anstieg an Kandidaturen ist kein Zufall. Allerdings halten sich alle Gruppen, die den Reformern zugerechnet werden, bedeckt, wollen nicht sagen, ob dahinter dieselbe Strategie wie bei den vorangegangenen Wahlen steckt. In der vergangenen Woche wurde aber deutlich, dass Kandidaten vielerorts den kurzen Wahlkampf dazu nutzten, um für bürgerliche Freiheiten und Reformen zu werben, neben ihren Stellungnahmen zu den Problemen in ihren Wahlkreisen.
Die Kandidaten für den Expertenrat, der für acht Jahre gewählt wird, sind indes allesamt männlich und bereits im Rentenalter. Das liegt an den hohen Anforderungen an die Qualifikation und stellt ein Problem dar: Von jenen, die 2016 gewählt wurden, lebt heute nur noch gut die Hälfte. Nicht mit dabei: Ex-Präsident Hassan Ruhani, dem die Kandidatur verboten wurde. Eine Begründung dafür habe es nicht gegeben, ließ er über soziale Netzwerke mitteilen.
Ajatollah Khamenei ist 84 Jahre alt. Es ist also sehr wahrscheinlich, dass der nächste Expertenrat den Nachfolger wählen wird. Wenn das passiert, werden die Brüche in der Gesellschaft und im Machtapparat deutlicher zum Vorschein kommen.
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