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Kritik des Fussballs: Zu entschieden gegen Unentschieden
Der Germanist Ansgar Mohnkern rechnet mit einer der beliebtesten Sportarten ab. Fällt sein Urteil zu negativ aus?
Die deutsche Fußball-Bundesliga wurde im Jahr 1963 gegründet. Seitdem haben über 18 000 Spiele stattgefunden. Etwa ein Viertel davon endete unentschieden. Von der Vielzahl der Remis sollte man sich nicht blenden lassen, jedenfalls wenn man dem Germanisten Ansgar Mohnkern Glauben schenkt. Er ist sich sicher: »Einer verliert immer«, wie der programmatische Titel seines neuen Buches lautet. Mohnkern rechnet darin mit dem kapitalistischen Fußballbetrieb wie auch mit dem Fußballsport insgesamt ab.
Primär widmet sich der Amsterdamer Literaturwissenschaftler der »Logik des Spiels«, also den Regeln und Konventionen, den Abläufen und Ereignissen, die den Fußball ausmachen. Dabei treibt ihn eine ideologiekritisch grundierte Frage um: Inwiefern wirkt Fußball als eine »hegemoniale Kulturpraxis unseres Zeitalters« daran mit, dass die herrschende gesellschaftliche Ordnung befestigt und naturalisiert wird?
Sport und Ideologie
Wie bereits der Buchtitel verdeutlicht, fällt Mohnkerns Antwort eindeutig aus. An Vorstellungen eines »linken Fußballs«, die der argentinische Weltmeistertrainer César Luis Menotti in den 70er Jahren geprägt hatte, lässt er kein gutes Haar. Menotti feierte die Kreativität des Spiels und erkannte in ihr einen Gegenentwurf zum »rechten«, auf Disziplin und Effizienz ausgerichteten Fußball. Mohnkern hingegen verweist auf die Unerbittlichkeit des Ergebnisses. Der Fußball produziere und reproduziere »Sieger und Verlierer« – und zwar »nicht nur im Spiel, sondern auch in jenem Leben, das er als Spiel doch behutsam zu vermeiden vorgibt«.
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Mohnkern dekliniert diese These in acht Kapiteln durch. Seine Analysefiguren entwickelt er unter Rückgriff auf einen Reigen großer, kritischer Denker*innen – von Immanuel Kant bis Sigmund Freud, von Karl Marx bis Nancy Fraser. Zugleich widmet er sich kenntnisreich und mit Detailversessenheit dem Fußballbetrieb. Es geht um den »Münzwurf von Rotterdam«, mit dessen Hilfe 1965 der FC Liverpool zum Gewinner eines Europapokal-Viertelfinales gemacht wurde, nachdem drei Spiele gegen den Kontrahenten aus Köln keine Entscheidung gebracht hatten.
Ebenso befasst sich Mohnkern dem Elfmeterschießen oder dem Ligabetrieb als Institutionen, die die meritokratische Ideologie befeuerten, also die Annahme, dass soziale Ungleichheiten gerecht seien, weil sie auf Leistungsunterschiede zurückgingen. Er kommt auf den Frauenfußball und die Brüchigkeit der liberalen Emanzipationsvorstellungen zu sprechen, die ihn umgeben. Zu guter Letzt geht es auch um den mythenumrankten 1. FC Kaiserslautern, der sich jahrzehntelang dem »modernen Fußball« widersetzt und deswegen in der rücksichtslosen Konkurrenz des Geschäfts den Anschluss verloren habe.
»Fun ist ein Stahlbad«
Mohnkerns Fazit erinnert an die Kritik kapitalistischer Alltagskultur, die die Philosophen Theodor W. Adorno und Max Horkheimer einst in der »Dialektik der Aufklärung« formulierten: »Fun« sei ein von der »Vergnügungsindustrie« bereitgestelltes »Stahlbad«. Mohnkern zufolge feiere der Fußball »in jedem Spiel den Akt der Klassenspaltung von Neuem«, weil er immer wieder Gewinner*innen und Verlierer*innen hervorbringe und deren Unterscheidung über das Leistungsprinzip legitimiere. Er sei somit »nicht nur Abbild, sondern vielmehr geradezu Motor der ununterbrochenen Reproduktion einer Klassengesellschaft geworden, deren Ungleichgewichte … sich verhärten.«
Mohnkerns Verdienst ist es, dass er einen Perspektivwechsel einfordert und auch wirklich vornimmt. Er regt uns dazu an, sportpolitische Fragen erst einmal beiseite zu schieben und über den Fußball als Alltagspraxis nachzudenken, also als eine Tätigkeit, die der Liverpooler Trainer Bill Shankley einst als »simple game« bezeichnete und die dennoch weit über den Spielfeldrand hinaus wirkt. Und trotzdem – oder gerade deswegen – weckt seine Argumentationslinie Zweifel.
Wenn Mohnkern sich der Logik des Spiels widmet, überzeichnet er allerdings bisweilen die beobachteten Sachverhalte. Er stützt seine These von der Unausweichlichkeit und Brutalität von Sieg und Niederlage mit griffigen, aber einseitigen Aussagen. »Der Fußball, so scheint es, verträgt kein Unentschieden«, ist eine davon. Dagegen stehen die fast 5000 Remis der Bundesligageschichte.
Ähnlich verhält es sich mit der Behauptung, es gehe den an K.-o.-Runden beteiligten Mannschaften »nicht bloß darum, selbst im Wettbewerb zu verbleiben«, sondern Gegner »auszuschalten und – militärisch gesprochen – zu eliminieren«. Nun gehören Kreuzbandrisse und Wadenbeinbrüche sicherlich zu den Schattenseiten des Fußballsports. Dennoch ist die Verfassung von Verlierermannschaften nach dem Schlusspfiff nicht mit jener von den Verheerungen des Krieges gebrandmarkter Armeen zu vergleichen. Auch dass der Amateursport der unteren Ebenen ein Sammelbecken für jene sei, die beim Bier ihr »Abgehängtsein« zelebrieren, wäre mithilfe empirischer Alltagskulturforschung erst einmal zu beweisen.
Keine*r verliert immer
Mohnkerns Neigung zu starken Thesen bedeutet auch, dass er widerstrebende Zusammenhänge nicht ausreichend berücksichtigt. Die große Mehrzahl der Mannschaften, die am Ligabetrieb teilnehmen, werden weder Meister noch steigen sie ab. Und Ligazugehörigkeiten können sich schnell verändern. So wurde der SC Paderborn in den 2010er Jahren innerhalb von zwei Saisons von der ersten in die dritte Liga durchgereicht – um nach einer Spielzeit Pause den genau umgekehrten Weg anzutreten und in die höchste Spielklasse zurückzukehren. Keine*r verliert immer, wäre Mohnkern entgegenzuhalten.
Es ließe sich sicherlich einwenden, dass die wirtschaftlichen Ungleichheiten zwischen den ganz großen und den kleineren Clubs dennoch unüberwindbar bleiben. Aber die Existenz von »Fahrstuhlmannschaften« wie jener aus Ostwestfalen weist darauf hin, dass sich die Übermacht der Bayern in der Bundesliga nicht notwendig aus der Existenz eines Ligasystems ergibt. Ihre Entstehung ließe sich möglicherweise besser rekonstruieren, wenn man sie als Endresultat des Zur-Ware-Werdens des Fußballs verstünde. Eine Gegenthese zu Mohnkern wäre also, dass die Entstehung des Fußballkapitals die Logik des Spiels untergräbt. Denn Investor*innen verlangen nach sicheren Returns-on-Investment und folglich danach, dass Unwägbarkeiten ausgeschaltet werden.
Plädoyer für den genauen Blick
Insgesamt vernachlässigt Mohnkern also unter Verweis auf das große, schlechte Ganze Ambivalenzen und Widersprüche, weshalb ihm Potenziale gesellschaftlicher Veränderung durch die Lappen gehen. Dies zeigt sich unter anderem in seiner Analyse des Frauenfußballs. Mohnkern moniert, dass sich dieser seinem männlichen Counterpart angleiche und somit ähnlich ausschließend wie dieser funktioniere. Der Frauenfußball sei »Angelegenheit der bürgerlich und strukturell weißen Middle Class« aus dem globalen Norden, welche ihn als liberal-individualistisches, auf dem Leistungsprinzip aufruhendes Emanzipationsprojekt vereinnahme und damit eine wirkliche Befreiung blockiere. Die »›schwierigen‹, weil ungreifbaren, verborgenen und vor allem unartikulierten Frauen aus weiten Teilen eines globalen Südens« würden im Frauenfußball keine Rolle spielen.
Es mag sein, dass die vorherrschenden medialen Diskurse über den Frauenfußball liberale Emanzipationserzählungen verstärken und die globale Dominanz des Nordens absichern. Aber schon die Tatsache, dass Brasilien und China je einmal Vizeweltmeister geworden sind, passt nicht in das Bild einer geschlossenen Gesellschaft privilegierter weißer Frauen. Angesichts feministischer Massenbewegungen gegen machistische Gewalt in Lateinamerika und großer Streiks von Arbeiterinnen an den neuen Knotenpunkten der globalen Industrieproduktion wirkt der Verweis auf »unartikulierte Frauen« des Südens anachronistisch.
Ein Beispiel: Die Tatsache, dass im letzten Jahr mit Marokko erstmals ein muslimisch geprägtes Land an einer Frauen-Weltmeisterschaft teilnahm und sogar das Achtelfinale erreichte, wertet Mohnkern als Bestätigung der unangetasteten Dominanz des Nordens. Schließlich seien viele der Spielerinnen in Frankreich ausgebildet worden und der Trainer sei ein Franzose.
Hingegen schildert Mareike Boysen in zwei eindrucksvollen Reportagen für die Wiener Zeitschrift »Tagebuch«, dass zahlreiche Nationalspielerinnen vor Ort ausgebildet worden seien und nach wie vor in Marokko spielten. Und sie erzählt von jungen Vereinsspielerinnen aus der Industriestadt Safi. Diese nähmen sich das Recht, sich auf dem Platz »auszudrücken« und »sich selbst zu finden« – auf dem Rücken des Erfolgs des Nationalteams und gegen Widerstände von traditionalistischen Kräften. Indem sie spielen, verbessern Mädchen und Frauen also ihre Lebensverhältnisse und setzen sich gegen den Sexismus, der ihnen im Alltag begegnet, zur Wehr.
Am Ende muss somit ein Plädoyer für den genauen Blick stehen. Mohnkern hat recht, wenn er die Aufdeckung der Herrschaftseffekte fordert, die vom Fußballspiel als Praxis ausgehen. Aber Herrschaft im Kapitalismus lässt sich nur dann präzise darstellen, wenn sie in ihrer Umkämpftheit erfasst wird. Gerade deshalb ist wichtig, bei der Analyse des Fußballs den Widersprüchen und alltäglichen Auseinandersetzungen, die ihn umringen, ausreichend Platz einzuräumen. Nur so wird deutlich, dass Herrschaft geschichtlich entstanden ist, und sie sich wieder zurückdrängen lässt – und wo Veränderungspotenziale liegen.
Alexander Gallas ist Politikwissenschaftler, Streikforscher und Privatdozent an der Universität Kassel. Er trainiert eine Jugendfußballmannschaft, die in der Kreisliga spielt.
Ansgar Mohnkern: Einer verliert immer. Betrachtungen zu Fußball und Ideologie. Turia + Kant, 154 S., br., 20 €.
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