Jerusalem: Die geteilte Stadt

In Jerusalem leben Israelis und Palästinenser nebeneinander und sind sich doch fremd

  • Marco Keilberth, Jerusalem
  • Lesedauer: 5 Min.
Der Tempelberg in Jerusalem: Ost- und Westteil der Stadt leben zunehmend in getrennten Welten.
Der Tempelberg in Jerusalem: Ost- und Westteil der Stadt leben zunehmend in getrennten Welten.

Auf der Jaffa-Straße herrscht wie immer hektischer Trubel. Nichts deutet auf der Flaniermeile im Herzen Westjerusalems darauf hin, dass sich in Gaza, keine 80 Kilometer entfernt, eine blutige Tragödie abspielt. Die Stimmung wirkt ernster als im letzten Frühjahr, als noch Touristen aus aller Welt vor Einzug der Sommerhitze in die heilige Stadt strömten. Nur vereinzelte evangelikale Besuchergruppen haben die Reisewarnungen ignoriert, sie stören sich nicht an den vielen automatischen Waffen, die selbst junge Paare geschultert haben.

Bei einer Veranstaltung in Erinnerung an die über 100 in den Gazastreifen verschleppten Hamas-Geiseln sind die Sicherheitsvorkehrungen überraschend lasch. Das junge Team am Eingang des »House of Zion« wirft nur einen kurzen Blick auf die Rucksäcke der geladenen internationalen und israelischen Journalisten. Palästinensische Medien wurden nicht eingeladen. »Angesichts des Kulturkampfes halten alle Israelis zusammen, auch diejenigen die vor dem 7. Oktober politisch verfeindet waren«, erklärt ein israelischer Journalist die für Besucher überraschend ruhige Stimmung in Israel.

Ein paar Gehminuten weiter östlich, am Damaskustor, starren Passanten an einer Straßenbahnhaltestelle auf ihre Mobiltelefone. Auch im annektierten Ostjerusalem wirkt der Alltag auf den ersten Blick unspektakulär. Dabei treffen am Damaskustor die Altstadt, das mehrheitlich arabische Ostjerusalem, und der jüdische Westteil aufeinander. Ein orthodoxes Ehepaar steht vor dem Gemüsestand eines Palästinensers, der Umgangston ist bedacht sachlich. Wer in den palästinensischen Gebieten wen dominiert, wird schnell deutlich. Der palästinensische Verkäufer spricht Hebräisch, die Währung ist der Schekel, auch hier wehen zahlreiche israelische Fahnen. Die Währung Israels wird auch in Gaza, dem Westjordanland und in dem nach internationalem Recht ebenfalls nicht zu Israel gehörenden Ostjerusalem verwendet.

»Unsere Steuern, unsere Identitätsdokumente, einfach alles wird von Israel kontrolliert«, lacht Mohammad Sbeidi schulterzuckend. Der vierfache Familienvater betreibt einen Falafel-Imbiss am Eingang zur gähnend leeren Altstadt. »Aber viele von uns haben sich über die Jahre mit der Besatzung abgefunden, weil es wirtschaftlich ganz gut lief die letzten Jahre und man seinen Kindern eine bessere Bildung bieten konnte, als dies in den Nachbarländern möglich wäre.« Doch seit dem letzten Oktober bleiben die Touristen aus, Sbeidis Gewinn ist um 80 Prozent gesunken.

Aus Angst vor weiteren Terroranschlägen lassen die israelischen Behörden zudem keine palästinensischen Arbeitnehmer mehr ins Land, mindestens 200 000 Palästinenser wurden über Nacht arbeitslos. Im Westjordanland schloss die israelische Armee die Übergänge durch den 760 Kilometer langen Grenzzaun. Doch zwischen Ost- und Westjerusalem gibt es keine Absperrungen. Die nach der zweiten Intifada vor 20 Jahren gebaute Mauer steht inmitten palästinensischen Gebietes und trennt den Ostteil der Stadt vom Westjordanland.

»Manchmal weiß ich nicht, ob ich gerade in Ost oder Westjerusalem bin«, sagt Avigail Zadik. Die israelische Sozialarbeiterin ist vor drei Jahren aus Tel Aviv in die Nähe des Damaskustors gezogen. Die Neugier zieht sie immer wieder in die von schwerbewaffneten Armeepatrouillen gesicherte Altstadt. Ihre Lebensmittel kauft sie bei den »arabischen Händlern«, wie sie sagt. Freunde trifft sie jedoch nur in den Cafés abseits der Jaffa-Straße.

»Die Angst vor der Rückkehr des Terrors und die verschärften Maßnahmen gegen normale Palästinenser haben neue, noch unsichtbare Mauern in der Stadt geschaffen«, sagt sie. »Palästinenser und Israelis haben sich seit dem 7. Oktober noch weiter entfremdet. Beide Gesellschaften könnten sich unumkehrbar radikaliseren, wenn es nicht bald wieder ein normales Leben gibt.«

Auf Avigails Smartphone treffen unentwegt Nachrichten ein. Über Chatgruppen auf sozialen Medien hält man sich in Ost- und Westjerusalem auf dem Laufenden. »Israelis fürchten Messerattacken vor Straßenbahnhaltestellen oder Autos, die in Menschenmengen gefahren werden«, sagt Avigail, »so wie es im Januar in der Nähe von Tel Aviv geschah«.

Dass es in Jerusalem seit dem 7. Oktober laut staatlichen Medien nur zu vereinzelten Angriffen auf Juden kam, lässt sie nicht gelten. »Ich glaube die Regierung verheimlicht viele Vorfälle, um keine Panik aufkommen zu lassen. Die Lage in Gaza ist in Westjerusalem hingegen nur selten ein Thema.«

Im Ostteil der 1-Million-Einwohner-Stadt leben viele, die Angehörige bei israelischen Angriffen in Gaza verloren haben. Unentwegt treffen Bilder von toten Zivilisten auf den Mobiltelefonen ein. Doch Hauptthema sind die zahlreichen Kontrollpunkte der israelischen Armee zwischen Ramallah und Jerusalem. »Die Mauer trennt ja nicht Juden von Palästinensern«, sagt Schmuckhändler Osama Zaarub, »sondern palästinensische Familien, so wie meine. Und Freunde, die innerhalb und außerhalb der Stadtgrenzen leben.«

Der in Jerusalem geborene Vater von vier Kindern kann mit seiner blauen Identitätskarte sogar nach Tel Aviv oder Haifa reisen. Auf seinem für Auslandsreisen gültigen provisorischen Reisedokument haben die israelischen Besatzungsbehörden unter Nationalität »jordanisch« vermerkt. Osamas Frau und seine Söhne dürfen hingegen oft nicht einmal Ostjerusalem besuchen, den Westteil dürfen sie gar nicht betreten. »Wir leben in dem sieben Kilometer von Jerusalem entfernten Ramallah. Aber oft wird der Kontrollpunkt Qalandia urplötzlich geschlossen, dann dauert es bis zu drei Stunden, bis ich zu Hause bin.«

Im bald beginnenden Ramadan könnte die Lage eskalieren. Israels Sicherheitsminister Itamar Ben Gvir denkt laut darüber nach, Muslimen den Zugang zur Al-Aqsa-Moschee in der Altstadt zu verwehren, solange noch nicht alle Geiseln frei sind. In den letzten Wochen haben ultranationalistische Jugendliche neben Palästinensern auch noch Christen zu ihrem Feindbild erklärt. Mehrere Priester wurden unter Androhung von Gewalt aufgefordert, ihre Kreuze nicht mehr öffentlich sichtbar zu tragen. »Nach zwei Jahrzehnten relativer Ruhe sind wir an einer Weggabelung angekommen«, sagt Osama Zaarub. »Auf unserer Seite schlägt sich die bisher moderate, aber jetzt arbeitslose Jugend auf die Seite der Hamas oder anderer militanter Gruppen. Bei den Israelis hat die radikale Siedlerbewegung die moderaten Kräfte bereits verdrängt.«

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