EU-Asylreform: »Schon heute findet eine Inhaftierung statt«

Anne Pertsch betreut Geflüchtete in Griechenland und kritisiert das neue europäische Asylsystem

  • Interview: Melanie M. Klimmer
  • Lesedauer: 7 Min.
Eine junge Frau läuft im traditionellen muslimischen Abaya durch das neue Lager auf der griechischen Insel Samos. Die geschlossene kontrollierte Anlage bietet Platz für 3500 Menschen.
Eine junge Frau läuft im traditionellen muslimischen Abaya durch das neue Lager auf der griechischen Insel Samos. Die geschlossene kontrollierte Anlage bietet Platz für 3500 Menschen.

Wie sehen die neuen Asyllager an den EU-Außengrenzen aus?

Die Unterbringung an den EU-Außengrenzen erfolgt verstärkt in Closed Controlled Access Centers (CCAC). Dabei handelt es sich um geschlossene Zentren, in denen die Registrierung, die Unterbringung während des laufenden Asylverfahrens und die Inhaftierung während des Abschiebeverfahrens verortet sind. Die EU stellte für deren Errichtung auf den Ostägäischen Inseln 276 Millionen Euro bereit. Auf Samos, Leros und Kos sind diese bereits fertig und in Betrieb, zwei weitere Zentren auf den Inseln Lesbos und Chios befinden sich im Bau.

Das Bundesministerium des Innern erklärt, es handele sich bei diesen Lagern nicht um Haftzentren, Freiheitsentzug finde nicht statt. Stimmt das?

Nein. »Alternative Maßnahmen« und andere dafür eingesetzte Begriffe suggerieren, dass Schutzsuchende an den Außengrenzen nicht inhaftiert würden. Für einen De-facto-Freiheitsentzug ist es nicht relevant, wie er bezeichnet wird. Für die Durchführung der Grenzverfahren ist die sogenannte Fiktion der Nicht-Einreise vorgesehen. Hier wird die rechtliche Fiktion aufrechterhalten, dass Menschen, trotz des Aufenthalts auf EU-Hoheitsgebiet, für die Dauer ihrer Asylverfahren nicht eingereist sind. Um dieses anzuwenden, müssen die Betroffenen an einem Ort festgehalten werden – dies ist ohne Inhaftierung nicht vorstellbar. Und eine, auch nur theoretische Möglichkeit der Ausreise in Drittstaaten ändert daran nichts. Für die rechtliche Einschätzung ist die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs und auch des Europäischen Menschengerichtshofs ausschlaggebend, die in einer Unterbringung an begrenzten Orten wie einer Transitzone eine Freiheitsentziehung sehen. Insbesondere dann, wenn Personen nicht einfach über eine Grenzlinie laufen können, sondern dazu ein Flugzeug boarden, ein Boot besteigen und Visa beantragen müssen. Das Festhalten auf einer Insel, wie an der griechischen Außengrenze, ist somit als Haft einzuordnen.

Interview
Anne Pertsch

Foto: equal rights beyond borders

Anne Pertsch ist Juristin und Projektkoordinatorin bei Equal Rights Beyond Borders. Die deutsch-griechische NGO mit Büros in Kos, Chios, Athen und Berlin setzt sich für die Rechte von Geflüchteten und Asylsuchenden in Griechenland, Deutschland und der gesamten EU ein.

Wie sieht die Realität aus? Haben die Menschen dort Bewegungsfreiräume?

Schon heute findet eine massenhafte Inhaftierung von Schutzsuchenden auf den Ostägäischen Inseln auf unbestimmte Zeit statt. Die Lager sind von Stacheldraht umgeben und werden rund um die Uhr mit Flutlicht ausgeleuchtet. Es gibt keine Rückzugsmöglichkeiten. Polizeipräsenz sowie Einlass- und Auslasskontrollen vermitteln den Eindruck, sich in einem Gefängnis zu befinden. Während der laufenden Registrierungsmaßnahmen dürfen die Menschen das Lager nicht verlassen. Auch danach werden die Schutzsuchenden in bestimmten Bereichen des Lagers festgehalten, und es ist ihnen nur gestattet, für bestimmte Stunden am Tag das Lager zu verlassen.

Offiziell sind unbegleitete Minderjährige und besonders Schutzbedürftige von den angesprochenen Grenzverfahren auszunehmen. Kann das mit der Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) erfüllt werden?

Das sehe ich nicht. Bereits heute sind Altersfeststellungen bei Kindern oft fehlerhaft, sodass Minderjährige als volljährig eingestuft werden. Das größte Problem aber stellt die fehlende medizinische Versorgung dar, ohne die auch jene Mechanismen nicht funktionieren, um besondere Schutzbedarfe überhaupt zu identifizieren.

Haben Sie ein Beispiel?

Auf der Insel Kos – sie ist Blaupause für die geplanten Zentren an den EU-Außenzentren – gab es in den letzten sechs Monaten keine*n Ärzt*in für das Lager und somit keine Person, die für die dort bis zu 4000 untergebrachten Menschen zuständig war. Lediglich ein Arzt kam einmal pro Woche vorbei. Vor Ort existieren weder ausführliche medizinische noch psychologische Untersuchungen, um beispielsweise Überlebende von Folter oder sexualisierter und geschlechtsspezifischer Gewalt zu identifizieren, was eine Voraussetzung dafür ist, dass sie von den Grenzverfahren ausgenommen werden.

Das heißt, Überlebende können die Gründe für ihren besonderen Schutzbedarf gar nicht erst vorbringen?

Ihre Schutzbedarfe bleiben zumeist unerkannt. Denn gerade bei der Feststellung braucht es Zeit, Vertrauen und überhaupt ein Bewusstsein für erlittenes Unrecht. Gleichzeitig sollten Schutz und Sicherheit der Person im Vordergrund stehen, wofür in den Grenzverfahren, wie wir sie bereits kennen und wie sie weiterhin vorgesehen sind, kein Raum besteht.

Was haben Sie da beobachtet?

In den CCACs ist eine geschlechtersensible Unterbringung vorzuhalten, wie getrennte Sanitäranlagen, abschließbare Räume und eine angemessene Beleuchtung. Aber diese Bedingungen sind de facto nicht vorhanden. Es fehlt bereits an Schutzräumen oder auch nur Rückzugsmöglichkeiten sowie weiblichem und geschlechtersensibel geschultem Wach- und Sicherheitspersonal. Grundsätzlich fehlt es an allen rechtlich verbindlich vorgesehenen Schutz- und Unterstützungsmaßnahmen. Hinzu kommt, dass selbst nach einem positiven Abschluss des Asylverfahrens für die allermeisten Schutzsuchenden ein Leben auf der Straße folgt, weil von da an alle staatlichen Unterstützungsleistungen entfallen. All diese erheblichen Verletzungen rechtlicher Verpflichtungen wurden über die Jahre unzählige Male hervorgehoben und durch NGOs, Beschwerdestellen und Gerichte sowie das EU-Parlament festgestellt; zu einer Verbesserung ist es jedoch nie gekommen.

Dennoch geht die deutsche Regierung davon aus, dass die Grenzverfahren in den CCACs künftig und auch schon jetzt, auf EU-Hoheitsgebiet rechtsstaatlichen Prinzipien folgen. Was steckt dahinter?

Nun, da die CCACs ein europäisches Projekt sind und das Ergebnis europäischer Politik und da die EU an zahlreichen Stellen in diesen »Hotspots« eingebunden ist, billigt sie sehenden Auges die bestehende, menschenunwürdige Praxis. So führt die Asylagentur der Europäischen Union Anhörungen durch oder Frontex wirkt bei der Feststellung der Herkunft und des Alters bei Schutzsuchenden mit. Zudem sind die Staaten an den EU-Außengrenzen dafür zuständig, die Externalisierungspläne der EU durchzusetzen und somit Schutzsuchenden den Zugang zu Asyl zu verwehren. Der Druck, den allen voran Deutschland auf Griechenland und andere Mittelmeeranrainerstaaten erzeugt, ist ein Grundpfeiler für menschenunwürdige Zustände, die wir in den CCACs vorfinden.

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Was wird die GEAS-Reform verändern?

Die Reform wird insbesondere die bestehenden Praktiken und Zustände, die wir jetzt schon an den EU-Außengrenzen haben, legitimieren und normalisieren. Die Staaten werden verpflichtet, Grenzverfahren durchzuführen, und diese können auf eine Großzahl an Menschen angewendet werden. Durch die bereits fehlerhafte oder ganz ausbleibende Identifizierung von Schutzbedarfen und die oftmals fehlerhafte Feststellung von Minderjährigkeit werden viele Personen in den Grenzverfahren sein, die theoretisch davor beschützt werden sollen.

Welche Klagemöglichkeit bleibt Schutzsuchenden mit der Reform?

Die Reform sieht erhebliche Einschränkungen im Rechtsschutz von Schutzsuchenden vor. So soll weiterhin kein Zugang zu kostenfreier Rechtsvertretung zur Verfügung stehen. Die Fristen zur Einlegung von Rechtsmitteln werden außerdem durch die Reform weiter verkürzt und die Wahrnehmung rechtlicher Überprüfung ist damit kaum mehr durchsetzbar. Auch ist der Zugang zu anwaltlicher Vertretung durch das Festhalten in den CCACs an abgelegenen Orten faktisch unmöglich.

Gibt es bei der EU Bedenken über die Rechtsstaatlichkeit der Verfahren in Griechenland?

Die EU-Grundrechteagentur hat schon 2019 festgestellt, dass die Bearbeitung von Asylanträgen an abgelegenen Orten, wie auf den Ägäischen Inseln, grundrechtliche Herausforderungen schuf. Und das EU-Parlament zeigte sich über die Behandlung von Schutzsuchenden in Griechenland zutiefst besorgt, so über die Durchführung systematischer Pushbacks, willkürliche Inhaftierungen, Diebstahl von Eigentum, mangelnden Schutz vor Straftaten in den Lagern, den Zustand der sanitären Einrichtungen, Fälle übermäßiger Gewaltanwendung durch die Polizei gegenüber Minderheiten sowie Schikanen und Repressionen gegenüber den Verteidiger*innen von Menschenrechten. All das macht mehr als deutlich, wie es um den griechischen Rechtsstaat bestellt ist. Die Zustände sind seit Jahren bekannt. Dennoch werden sie ignoriert und somit toleriert.

Haben NGOs Möglichkeiten, die Rechtsstaatlichkeit der Verfahren zu kontrollieren?

Eine umfassende, zivilgesellschaftliche Kontrolle über die Einhaltung fundamentaler Menschenrechte und die Durchführung rechtsstaatlicher Verfahren ist – nicht nur in Griechenland – kaum realisierbar. Zugang zu den Lagern besteht nur für zugelassene Anwält*innen und registrierte Organisationen, wobei es für sie zu manchen Bereichen überhaupt keinen Zugang gibt. Die Voraussetzungen, um sich als NGO registrieren zu können, haben sich durch ein neues Gesetz zudem erheblich verschärft. Das EU-Parlament hat in einer Resolution vom 7. Februar deutlich gemacht, dass der Rechtsrahmen für eine solche Registrierung in Griechenland zu restriktiv ist und die griechische Regierung nachdrücklich dazu aufgefordert, die Beschränkungen für NGOs und Journalist*innen unverzüglich aufzuheben.

Wie hat sich das migrationspolitische Klima in Griechenland verändert?

Das Klima gegenüber denen, die sich für die Rechte von Asylsuchenden einsetzen, hat sich sehr verschlechtert. Die griechische Regierung geht mit einer Kriminalisierungskampagne gegen NGOs und Journalist*innen vor. Nicht nur das EU-Parlament beobachtet diese Entwicklung mit Sorge. Auch die Vereinten Nationen, Human Rights Watch und die Heinrich-Böll-Stiftung berichten über das aggressive Vorgehen der griechischen Regierung.

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