- Politik
- Gesundheitspolitik
Die Stiko in den Mühlen der Politik
Der Umbau der Ständigen Impfkommission durch das Gesundheitsministerium ist umstritten
An diesem Dienstag kommt die neu berufene Ständige Impfkommission (Stiko) zu ihrer konstituierenden Sitzung zusammen. Dabei wählen die nunmehr 19 Mitglieder ihre Vorsitzenden. Das Treffen dient auch dem Kennenlernen, denn gerademal fünf Wissenschaftler waren schon vorher in der Stiko. »Die Unabhängigkeit der Stiko von politischer Einflussnahme hat sich bewährt und bleibt weiter bestehen«, beteuerte Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) bei der Ernennung im Februar angesichts von Kritik an seinem Vorgehen.
Tatsächlich ist es der größte Umbau in der Geschichte des ehrenamtlich arbeitenden Gremiums, das die Aufgabe hat, offizielle Empfehlungen herauszugeben, wer sich wann und wie oft gegen welche Infektionskrankheit prophylaktisch impfen lassen sollte. Die Stiko erstellt zudem einen Impfkalender, der aktuell 18 verschiedene Erreger umfasst und an dem sich die Arztpraxen orientieren sollen. Was lange Zeit lautlos über die Bühne ging, änderte sich in der Covid-Zeit schlagartig. Der Stiko-Vorsitzende Thomas Mertens, Virologe aus Ulm, war eines der Gesichter der Pandemie in Deutschland, jede neue Empfehlung zum Boostern oder zum Impfen immer jüngerer Gruppen wurde bis in Talkshows hinein diskutiert.
Vor allem aus der Politik und aus Teilen der Medien gab es ständig den Vorwurf, die Stiko sei zu langsam und zu zögerlich mit ihren Empfehlungen. Solche Einflussnahme hatte zuvor nur die Pharmaindustrie versucht, die erwartet, dass sich ihre kostspielige Vakzin-Forschung schnell in klingender Münze auszahlt. Jetzt waren es Politiker fast aller Parteien, die nach der tödlichen Corona-Welle zur Jahreswende 2020/21 in den Altersheimen massiv unter Druck standen und nach Sündenböcken suchten: »Die Stiko sollte dringend überlegen, wann sie das Impfen von Jugendlichen empfiehlt«, twitterte etwa der bayerische Ministerpräsident und Jurist Markus Söder (CSU) im Juli 2021, als die EU-Arzneimittelbehörde EMA erstmals Corona-Impfstoffe ab zwölf Jahren zugelassen hatte. Auch SPD-Chefin Saskia Esken, von Beruf Informatikerin, forderte: »Wir brauchen dringend einen Impfstoff für Kinder, und ich hoffe auch, dass die Stiko ihre eingeschränkte Impf-Empfehlung für Jugendliche bald überdenkt.« Noch stärker wurde der Druck, als Eskens Parteifreund Lauterbach Minister wurde. Trotz regelmäßiger Fehleinschätzungen – man denke nur an seine Mahnung, Maske im Freien zu tragen – gerierte er sich ebenfalls via Twitter als der Covid-Topexperte schlechthin, gab selbst Impfempfehlungen ab, die zum Teil denen der Stiko widersprachen.
Wegen der ständigen Ermahnungen sah sich das Gremium häufig im Rechtfertigungsmodus. Das untergrub auch das Vertrauen in der Bevölkerung und leistete letztlich der Impfskepsis Vorschub. Das ging so weit, dass dubiose Coronaleugner der Stiko vorwarfen, auf Zuruf von Politikern zu entscheiden, die am liebsten alle zwangsimpfen wollen. Es gab immer heftigere Anfeindungen via Social Media gegen die Mitglieder, Mertens persönlich wurde auf der Straße angepöbelt.
»Es war wenig hilfreich, dass die Politiker ständig ungefragt dazwischengequatscht haben«, sagt der 74-jährige Mertens, der schon vor den Umbauplänen seinen Stiko-Abgang angekündigt hatte, daher mit deutlichen Worten. »Das Narrativ, dass wir zu langsam waren, ist einfach falsch«, ist er bis heute überzeugt.
Während die Politik mehr Tempo anmahnte, verlangte das wissenschaftliche Vorgehen des Gremiums nämlich das Gegenteil: In der Pandemie kamen nach und nach immer neue Erkenntnisse zu Sars-CoV-2 hinzu, gleiches galt für die Wirksamkeit und Sicherheit der ganz neuen Covid-19-Impfstoffe. Deshalb hätte die Politik die Arbeit der Stiko nicht kritisieren, sondern unterstützen sollen. Mehrmals wurde das Gesundheitsministerium darauf hingewiesen, dass die Geschäftsstelle des Gremiums mehr feste Mitarbeiter benötige, um ihre Aufgaben besser bewältigen zu können, doch nichts geschah. Ebenfalls erschwert wurde die Arbeit durch ein anderes Problem: »Die Verfügbarkeit wichtiger medizinischer Daten ist in Deutschland auf dem Niveau eines Entwicklungslandes«, kritisierte Mertens im vergangenen Jahr bei einer Konferenz in Meran. Es sei »absolut unverständlich«, dass die Fragen, wie viele Personen in welcher Altersgruppe mit welchen Impfstoffen geimpft wurden und bei wie vielen davon welche Nebenwirkungen auftraten, während der Impfkampagne nicht zu jedem Zeitpunkt sofort zu beantworten gewesen seien.
Unser täglicher Newsletter nd.Kompakt bringt Ordnung in den Nachrichtenwahnsinn. Sie erhalten jeden Tag einen Überblick zu den spannendsten Geschichten aus der Redaktion. Hier das kostenlose Abo holen.
Lauterbach, der bereits die Aufgaben des Robert-Koch-Instituts stark beschnitten hat, lässt Vorwürfe abprallen, er wolle die unbequeme Stiko auf Linie bringen. Die Kommission werde »mit vielen neuen Mitgliedern aus sehr unterschiedlichen Fachbereichen jünger und noch interdisziplinärer besetzt«, so seine Darstellung. »Auch wissenschaftliche und praktische Spitzenkräfte bauen das neue Team auf.« Dabei ändert sich fachlich fast nichts: Nach wie vor dominieren Virologen und Infektiologen, Spezialisten wie Kinder- und Frauenärzte, aber auch Vertreter von Gesundheitsämtern. Neu ist lediglich, dass ein Kommunikationswissenschaftler und auch ein Modellierer mit von der Partie sind.
Immerhin hat der SPD-Mann nicht spezielle Leute ausgewechselt, die ihm gegen den Strich gingen. Eine Änderung der Geschäftsordnung, wonach die Mitglieder nur noch maximal drei Amtszeiten à drei Jahre haben dürfen, sorgte für das personelle Aufräumen. Auch das ist umstritten: Fachleute warnen, dass es eine ganze Weile dauern werde, bis die neue Stiko gut eingearbeitet und aufeinander abgestimmt sei. Gleichzeitig dürften viele Kompetenzen in Detailfragen plötzlich weg sein.
Wie stark der Einfluss des Ministers auf die neue Stiko tatsächlich sein wird, dürfte sich wieder bei Corona zeigen: Aktuell gibt es keine Impfempfehlung mehr für unter 18-Jährige ohne Vorerkrankung. Ob das so bleiben wird?
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.