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Die wirkliche Willkommenskultur
Menschen, die nicht Jan oder Katharina heißen, merken in Deutschland, wie verlogen die angebliche Willkommenskultur ist
Wären heute Wahlen, sagt die Soziologin Naika Foroutan, würden viele Migranten AfD wählen; ihr Anteil an der Rechtsaußen-Klientel steigt stetig. Das deckt sich mit meiner Wahrnehmung, einigermaßen schockiert verdichtet nach vielen belauschten und geführten Gesprächen in Fußballverein, S-Bahn, Café, Taxi. Was man da hört, stellt auch Fragen an die Realitätswahrnehmung eines Teils der politischen Linken. Manchmal ist es im Leben wie im Deutsch-Aufsatz: Wer das Thema verfehlt, kann noch so gut formulieren – er fällt trotzdem durch.
Foroutan nennt Gründe, warum Menschen, die vor 20 Jahren zu 70 Prozent Rot-Grün wählten, nach rechts abwandern: Nahost, die Verlogenheit des Westens, die dafür sorgt, dass Menschenrechtsverletzungen, bei denen Muslime die Opfer sind, niemanden hinterm Ofen hervorlocken. Doppel-Wummse gibt es in Deutschland nur, wenn andere Regionen betroffen sind. Dann aber in einem Ausmaß, dass kein Geld mehr dafür da ist, irgendetwas zu sanieren oder gar auszubauen, was mit dem Alltag ganz normaler Menschen zu tun hat. Auch dass für Flüchtlinge aus der Ukraine weit mehr getan wird als für andere, passt für Migranten aus anderen Ethnien ins Bild.
Natürlich ist es dennoch ziemlich hohl, als Migrant eine Partei zu wählen, in der viele von einer 70er-Jahre-Republik träumen, in der der einzige Ausländer im Dorf in der Pizzeria arbeitet, und ein ziemlich großer Flügel sich noch 40 Jahre weiter zurückbeamt. Allerdings würden das sicher deutlich weniger Menschen tun, wenn die anderen Parteien nicht dermaßen an ihnen vorbeireden würden. In der Hinsicht vertreten die dann doch ganz gut die Mehrheitsgesellschaft.
Christoph Ruf ist freier Autor und beobachtet hier politische und sportliche Begebenheiten.
Dieses Land hat auch 63 Jahre nach dem Anwerbeabkommen nicht begriffen, was es heißt, dass hier fast drei Millionen türkischstämmige Menschen wohnen. Eine Wette: 99 Prozent aller Bio-Deutschen beherrschen nicht mehr als zehn türkische Vokabeln. Und wenn sie bei Jauch unter Zeitdruck drei Begriffe mit »Türkei« assoziieren sollten, wäre der »Döner« ebenfalls zu 99 Prozent dabei. Das andere Prozent besteht aus Intellektuellen. Die sagen »Kebap«. Vielleicht sollten die Türkinnen und Türken also einfach Geduld haben: Vor 40 Jahren fiel den meisten Deutschen zu Italien auch nur »Schbagetti« ein; das hat sich geändert. Etwa im Jahr 2100 können wir Deutsche sicher elf türkische Worte. Interessant übrigens, dass »Diversitäts«-Kampagnen fast immer Schwarze neben Bio-Deutschen zeigen. Aber kaum Menschen, die türkischstämmig aussehen und mit 2,8 Millionen Menschen eine ziemlich große Gruppe sind.
Menschen, die nicht Jan oder Katharina heißen, merken, wie verlogen die angebliche Willkommenskultur ist. Der Publizist Hasnain Kazim berichtet, wie nervig es ist, wenn langjährige Kollegen seinen Namen falsch schreiben. »Hasen« war auch schon dabei. Cem Özdemir hatte da noch Glück. Der in Bad Urach geborene Vollschwabe wird oft »der Türke« genannt. Ansonsten heißt es meist »Tschemm« statt »Dschemm«. Süddeutsche können nichts dafür. Ihr ureigener Sprachfehler lässt sie auch von »Tschimm Tscharmusch« sprechen. Da fallen »Tschan« und »Tschemm« nicht weiter auf. In nördlicheren Gefilden dürften sich Can und Cem indes wundern, warum seit Jahrzehnten niemand fragt, wie man ihre Dutzendnamen richtig ausspricht.
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