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Sozialer Sektor: Kollaps mit Ansage
Anhaltende Ökonomisierung erzeugt Abwärtsspirale bei Beschäftigung im Sozialbereich
Es ist ein düsteres Bild, das Christian Hohendanner, Jasmina Rocha und Joß Steinke zeichnen. Fachkräftemangel, Unterbezahlung, psychosozialer Stress und vor allem: geringe Aussicht auf Besserung. So beschreibt das Trio vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) und Deutschen Roten Kreuz (DRK) die Situation im Sozialbereich in ihrer neuen Studie »Vor dem Kollaps!? Beschäftigung im sozialen Sektor«.
Ein Kernproblem des sozialen Sektors sei der »Care Pay Gap«, wie die Autor*innen die unterdurchschnittliche Bezahlung im Sozialbereich bezeichnen. Ganze 17 Prozent verdienen Beschäftigte im sozialen Sektor weniger als in anderen Branchen. Zum Teil lässt sich der Lohnunterschied durch den Gender Pay Gap erklären, denn 78 Prozent der Beschäftigten sind Frauen. Kein Wunder also, dass der psychosoziale Stress deutlich höher ist als in anderen Branchen. Er setzt sich aus einem Ungleichgewicht zwischen dem Einsatz der Beschäftigten und ihrer Entlohnung zusammen. In Zeiten des Fachkräftemangels wirken sich diese Voraussetzungen ungünstig auf die gesamte Gesellschaft aus, wie es Hohendanner formuliert: »Wenn wir die soziale Daseinsvorsorge sicherstellen wollen, brauchen wir Personal. Das wird zunehmend schwierig.«
Die Hiobsbotschaft gilt nicht nur für Pflege und Kitas, sondern für den gesamten sozialen Sektor. Dieser sei größer als oft dargestellt, erklärt Steinke. Eine Reihe von wichtigen Berufen würde häufig übersehen, darunter die Migrationsberatung oder die Schulsozialarbeit. Die meisten Beschäftigten des sozialen Sektors arbeiten in der Kinderbetreuung und -erziehung, der Altenpflege, der Gesundheits- und Krankenpflege und der Sozialarbeit, Sozialpädagogik und Sonderpädagogik. Laut der Bundesagentur für Arbeit ist die Zahl sozialversicherter Beschäftigter im Sozialbereich bis 2021 auf drei Millionen angewachsen. In der Automobilindustrie arbeiteten im selben Zeitraum 800 000 Menschen. Trotzdem haben 77,6 Prozent der Betriebe Schwierigkeiten, Fachkräfte zu rekrutieren, rund 40 Prozent klagen über Personalmangel.
Das liegt zum Teil an der alternden Belegschaft. 37 Prozent der Beschäftigten waren bereits 2021 zwischen 50 und 62 Jahren alt. Zugleich äußern sich die Auswirkungen der unattraktiven Arbeitsbedingungen immer mehr. Der psychosoziale Stress, der Zeitdruck, das Arbeitspensum und der hohe Anteil an Schichtarbeit führen zu einer Steigerung von Krankheitstagen und anderen Fehlzeiten. Immer mehr Beschäftigte scheinen außerdem zu kündigen.
Das sind ungünstige Voraussetzungen für den Sektor. Denn der Wettbewerb um Arbeitskräfte nimmt zu, nicht nur innerhalb, sondern auch zwischen den Sektoren. Ein wichtiger Faktor ist die sich verschiebende Altersstruktur. Erst vergangene Woche schlug die Gewerkschaft Verdi Alarm: Auch der ÖPNV benötige bis 2030 bis zu 65 500 neue Fahrer*innen, anderenfalls ließe sich das bisherige Angebot nicht aufrechterhalten.
Trotz des steigenden Drucks verbesserten sich die Rahmenbedingungen im Sozialbereich nicht, sagt Steinke, DRK-Bereichsleiter für Sozial- und Wohlfahrtsarbeit. Die Mittel seien sogar rückläufig. Zuletzt hatte der Bundeshaushalt für zusätzliche Verunsicherung im Sozialbereich geführt. Einen Großteil der angekündigten Kürzungen nahm die Ampel wieder zurück. Der Migrationsberatung und der Unterstützung und Therapie von Geflüchteten strich sie dennoch mehrere Millionen des Budgets für 2024. Jenem Bereich also, der laut Steinke ohnehin bereits vernachlässigt wird. »Wir sind gefangen in den 90ern«, sagt Steinke, wobei er auf die damals greifende Ökonmomisierung des Arbeitsmarkts anspielt. Heutzutage stehe anstelle der Daseinsvorsorge der Markt im Zentrum des sozialen Sektors. Im Fokus liege kostensparendes Handeln und die Betriebe konkurrierten untereinander. Dies, gemeinsam mit mangelndem politischen Interesse an Veränderung sowie der unübersichtlichen Bürokratie, führe dazu, dass sich keine tiefgreifenden Reformen abzeichneten.
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Dabei sei der soziale Sektor ein Bereich, der seinen Zweck nicht beweisen müsse, sagt Rocha. Weil er aber so ein breites Feld darstelle, gebe es keine einfachen Lösungen für die anstehenden Probleme. Ganz möchten die drei die Hoffnung dennoch nicht aufgeben. Deswegen steht das Fragezeichen am Ende des Studientitels – und deswegen liefert das letzte Kapitel einen 17-Punkte-Plan zur Verhinderung des Kollapses.
Einige Veränderungen könnten die Betriebe selbst stemmen, indem sie sich mehr mit den Bedürfnissen der Beschäftigten auseinandersetzten. Möglicherweise würden so kreative Lösungen für Schichtarbeit und Befristungen gefunden und die Belastung reduziert.
Auf der politischen Ebene seien eine integrierte Beschäftigungspolitik für den gesamten Sektor und mehr Digitalisierung wünschenswert. Außerdem müssten Wege gefunden werden, den Versorgungsmangel konkreter zu erfassen. Zum Beispiel durch eine Meldestelle oder einen allumfassenden Bericht zum sozialen Sektor analog dem Armuts- und Reichtumsbericht. Die Bevölkerung müsse außerdem auf die Überalterung in allen Strukturen vorbereitet werden. Schlussendlich brauche es eine breite gesellschaftliche Debatte, schließt Steinke: »Was ist der Gesellschaft der soziale Sektor wert, und was darf er kosten?« Letztlich gehe es um den gesellschaftlichen Zusammenhalt.
Erste Reaktionen dazu gab es bereits von Heidi Reichinnek, sozialpolitische Sprecherin und Vorsitzende der Gruppe Die Linke. Sie forderte in einer Presseaussendung ausfinanzierte Strukturen, eine Fachkräfteoffensive und allgemeingültige Tarifverträge.
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