Notwendigkeit oder Nützlichkeit?

Daniel Marwecki über die deutsche Staatsräson und Israel

  • Harald Loch
  • Lesedauer: 4 Min.

Seit Angela Merkel am 18. März 2018 in ihrer Rede vor der Knesset bekannte, »diese historische Verantwortung ist Teil der Staatsräson meines Landes«, und seit Olaf Scholz am 7. Oktober 2023 diese »Staatsräson« wieder aufgriff, fragt sich alle Welt, was das bedeutet.

»Raison« ist der französische Begriff für Vernunft. Jeder kann erwarten, dass die deutsche Politik, vor allem die Außen- und Sicherheitspolitik, nach den Kriterien der Vernunft gestaltet wird. Was aber heißt das konkret – und was in Bezug auf Israel? Genauer gefragt: Was kann sich Israel von dieser Staatsräson kaufen? Oder auch: War die deutsche Israel-Politik der Bundesrepublik bisher vernunftgeleitet? Ist sie es heute?

Der 1987 geborene, an der University von Hong Kong internationale Beziehungen lehrende Daniel Marwecki untersucht die deutsche Israel-Politik von ihrem Anfang an und unterscheidet zwischen Räson und Moral. Auf amtliche Quellen gestützt, reflektiert er die Überlegungen und Entscheidungen des ersten Bundeskanzlers, Konrad Adenauer, der sich die Wiedererlangung eines moralischen Kredits in der Welt durch Wiedergutmachung an den Opfern des millionenfachen Judenmordes der Nazis erhoffte – durch Unterstützung des jungen jüdischen Staates Israel, der wirtschaftlich und militärisch auf sich allein gestellt kaum lebensfähig gewesen wäre.

Der Autor beschreibt das frühe Entschädigungsabkommen zwischen Bonn und Israel als ein Geschäft von »Whitewashing« und »State Buildung«, wie der englische Originaltitel seines Buches lautet. Mit Milliardenzahlungen der noch gar nicht wohlhabenden, noch unter den Kriegsfolgen leidenden Bundesrepublik an das noch viel ärmere Israel wollte – so die Räson Adenauers – Bonn wieder am Tisch der zivilisierten Nationen Platz nehmen.

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Entgegen vieler Stimmen von Überlebenden und Hinterbliebenen der Nazi-Morde nahm Israel dieses Blutgeld an und erhöhte damit seine Überlebenschancen inmitten einer feindlichen arabischen Umwelt. Es begann, seine Industrie mit Maschinen aus Deutschland aufzubauen und einen Außenhandel mit aus Deutschland gelieferten Schiffen zu betreiben.

Den Opfern des Judenhasses der Nazis im eigenen Lande verwehrte Bonn jedoch Entschädigungszahlungen, weil dies als allgemeines Schuldeingeständnis interpretiert werden musste. In einer Republik, in der Beamte, die vordem in Diensten Hitlers standen, Militärs, Richter, Professoren wieder in Amt und Würden waren. Von Adenauer als wichtige Rädchen im Getriebe geschätzt. Der Kanzler verstieg sich gar zu dem obszönen Vergleich, dass sowohl die Juden als auch die Deutschen unter dem Krieg gelitten hätten.

Doch Israel war auf die deutschen Zahlungen und Lieferungen angewiesen. Die USA traten noch nicht als Garantiemacht und Geberland in Erscheinung. Bis 1965 war die Bundesrepublik der wichtigste Partner Israels, auch sehr schnell in militärischer Hinsicht. Das wieder aufgerüstete westliche Deutschland lieferte Artillerie, Hubschrauber und Kriegsschiffe sowie US-amerikanische M48-Panzer im Ringtausch. Der Autor vermutet zudem mit einiger Plausibilität, dass bundesdeutsches Geld in die Entwicklung der israelischen Atombombe floss, getarnt als eine nie gebaute nukleare Entsalzungsanlage.

Um das Verhältnis zu den arabischen Staaten nicht zu beeinträchtigen, erfolgten diese Lieferungen von Rüstungsgütern unter strenger Geheimhaltung. Bonn befürchtete, dass die arabischen Staaten mit der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zur DDR antworten könnten. Die Hallstein-Doktrin war eben auch Teil der damaligen bundesdeutschen Staatsräson. In diesem Kontext wirft der Autor auch einen Seitenblick auf die Nahost-Politik der DDR, die Partei für das palästinensische Volk nahm.

Nach dem Austausch von Botschaftern zwischen Bonn und Tel Aviv schaltete die Bundesrepublik auf das um, was fortan »Normalisierung« genannt werden sollte, schraubte die Zahlungen an Israel aufs Niveau von »Entwicklungshilfe« herunter und überließ die Militärhilfe den USA. Seitdem ist Deutschland nur noch der zweitwichtigste »Freund« Israels.

Ein wissenschaftlich seriöses, spannend zu lesendes Buch, das bis in die Gegenwart führt, und im Hinblick auf den Überfall der Hamas am 7. Oktober vergangenen Jahres auch ein hochaktuelles, das zu weiterem Nachdenken und Debatten anregt. Staatsräson ist laut dem deutschen Philosophieprofessor Wolfgang Kersting eine »Rangordnungsregel für Interessens- und Rechtskollisionen«. Frei nach Machiavelli bestimmen Wille, Notwendigkeit und Nützlichkeit staatliches Handeln.

Dass sich Deutschland zu seiner historischen Verantwortung für den Massenmord an den Juden bekennt, ist immerwährende Notwendigkeit. Am ehrlichen Willen, das zu tun, hat es in der frühen Bundesrepublik gefehlt. Das Primat der deutschen Staatsräson damals lag auf Nützlichkeit, war pragmatischen Interessen geschuldet. Und kam dem existenziell bedrohten, jungen jüdischen Staat zugute. Und wie steht es damit heute?

Daniel Marwecki: Absolution? Israel und die deutsche Staatsräson. Wallstein, 212 S., geb., 22 €.

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