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Regimewechsel in der Antarktis

Im südlichen Sommer schrumpft das Meereis rund um den sechsten Kontinent – mit gravierenden Folgen

  • Wolfgang Pomrehn
  • Lesedauer: 7 Min.
Das antarktische Meereis ist sowohl für das Leben darauf als auch darunter wichtig.
Das antarktische Meereis ist sowohl für das Leben darauf als auch darunter wichtig.

Seit mehreren Jahrzehnten wird das Eis im Sommer auf dem arktischen Ozean immer weniger. Oft sind inzwischen die Gewässer entlang der nordamerikanischen und russischen Küste ab August für einige Wochen befahrbar. Rund um den sechsten Kontinent, die Antarktis, schienen die Uhren des Klimawandels hingegen lange anders zu ticken. Auch dort verlieren die sich ins Wasser schiebenden kilometerdicken Eisschilde zwar bedrohlich an Masse. Doch das sie umgebende Meereis, das sich im Winter auf den Ozeanen bildet und im
Sommer etwas zurückgeht, schien sich eher auszudehnen. Fast vier Jahrzehnte lang zeigte der Trend nach oben.

Bis 2014. Da war im Februar, dem Höhepunkt des sommerlichen Eisverlusts
auf der Südhalbkugel, die Meereisausdehnung so groß wie nie zuvor, seit in den 1970ern die systematische Beobachtung via Satelliten begann. Schon zwei Jahre später hatte sich dann das Eis in den Sommermonaten Dezember, Januar und Februar so weit wie nie zuvor zurückgezogen. Und diese Entwicklung setzte sich fort. Die bisher niedrigste Bedeckung gab es im Februar 2023 und im Februar 2024 fiel das Minimum nur geringfügig größer aus. Die Eisfläche im antarktischen Sommer war nur noch etwa halb so groß wie zehn Jahre zuvor.

Indikatoren für einen Systemwechsel

Eine jüngst im Journal of Climate der (US-)American Meteorological Society veröffentlichte Studie kommt zu dem Schluss, dass dies kein Zufall ist. Vielmehr weisen die Autorinnen und Autoren, ein Team der Universität von Tasmanien in Australien, einen regelrechten Systemwechsel im antarktischen Meereis nach. Seit fast zwei Jahrzehnten sei eine erheblich erhöhte Schwankungsbreite in der sommerlichen Eisbedeckung festzustellen. Die Standardabweichung – das heißt die Streuung rund um den Mittelwert – habe sich zwischen den Perioden 1976 bis 2006 und 2007 bis 2022 verdoppelt. Außerdem habe die Autokorrelation erheblich zugenommen. Letzteres bedeutet, dass sich nun bereits an der Eisbedeckung im Winter abschätzen lässt, wie stark der Rückgang im Sommer sein wird. Vor 2007 war das nicht der Fall.

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Aus der Analyse dynamischer Systeme auf diversen Feldern wie Ökologie, Wirtschaft und Klimawissenschaft ist bekannt, dass die hohe Standardabweichung und die Autokorrelation zwei Indikatoren für einen Regimewechsel, für den Übergang eines Systems in einen anderen Modus sind. Auch ein dritter Indikator für einen solchen Übergang scheint gegeben: Die große räumliche Kohärenz, das heißt, geringe regionale Unterschiede in den Veränderungen.

Ein solcher Regimewechsel in einem System bedeutet ein schnelles Umschlagen, aber noch nicht unbedingt einen sogenannten Kipppunkt, der mit unumkehrbaren Veränderungen einhergeht. Thomas Frölicher, der am Oeschger-Zentrum für Klimaforschung an der Universität von Bern forscht und lehrt, geht nicht von einem Kipppunkt aus und weist darauf hin, dass sich die Autoren in dieser Frage nicht festlegen. Auch Torsten Albrecht vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung teilt Frölichers Ansicht. Die Situation sei analog zum Meereis in der Arktis, dessen Ausdehnung bereits seit mehreren Jahrzehnten im Sommer immer stärker schrumpft. In den Klimawissenschaften sei man sich jedoch in Bezug auf die Arktis weitgehend einig, dass dort das Meereis in einem kühleren Klima schnell wieder wachsen könnte. Wenn denn endlich Schluss mit der Verbrennung fossiler Brennstoffe wie Kohle, Benzin und Erdgas gemacht würde, durch die sich weiter Kohlendioxid in der Atmosphäre anreichert, und wenn dieses Treibhausgas der Atmosphäre wieder entzogen würde. Doch derlei ist nicht in Sicht, sondern eher eine weitere Zuspitzung der Klimakrise.

Und in diesem Zusammenhang sind die Nachrichten aus der Antarktis alles andere als beruhigend. Bisher hat das Meereis dort eine gewisse Schutzfunktion für das mehrere hundert Meter dicke Schelfeis, das die Gletscher vom Land ins Meer drücken, wie Albrecht anmerkt. Solange vor dem Schelfeis eine Mischung aus Eisbergen und Meereis liegt, dämpft diese den Effekt von Wind und Wellen und damit den Abbruch weiterer Eisberge.

Meereis bremst weiteres Abschmelzen

Außerdem verhindert das weiße Eis auf dem Meer, dass die Sonne das darunterliegende Wasser erwärmen kann. Andernfalls würde dieses unter das Schelfeis dringen und dort das Abtauen weiter beschleunigen. Das ist ohnehin bereits ein Problem. Erst Ende Februar hatte eine im Fachjournal »Nature« veröffentlichte Arbeit zweier Wissenschaftler der Universität Edinburgh gezeigt, dass das Schelfeis tatsächlich erst seit den 1990er Jahren rapide dünner wird, sozusagen etwas verzögert mit der globalen Erwärmung. Der dicke Eispanzer schrumpft vor allem, indem relativ warmes Meerwasser aus tieferen Ozeanschichten unter das Schelfeis dringt und es dort abschmilzt. Seit einigen Jahren ist bekannt, dass diese aufsteigenden Strömungen wärmeren Wassers zugenommen haben.

Zugleich wird rund um die Antarktis jedoch auch Tiefenwasser gebildet, wofür das Meereis verantwortlich ist. Wenn die Meeresoberfläche gefriert, bleibt der größte Teil des Salzes im kalten, dem Gefrierpunkt nahen Wasser zurück. Relative Kälte und hoher Salzgehalt führen wie im nördlichen Nordatlantik dazu, dass Wasser in die Tiefe absinkt und damit zum einen die alle Weltmeere umfassende Umwälzzirkulation antreibt und zugleich das im Wasser gelöste CO2 sowie Wärmeenergie mit in die Tiefe nimmt. Beides zusammen hat eine kühlende Wirkung auf den Planeten, wie Frölicher und Albrecht unabhängig voneinander betonen. Allerdings gibt es noch keine gesicherten Kenntnisse darüber, ob die verringerte Meereisbedeckung bereits die Tiefenwasserbildung beeinflusst.

Auch ist noch unklar, was eigentlich zum Regimewechsel in der Meereisausdehnung geführt hat. Die australischen Autorinnen und Autoren konnten nur ausschließen, dass es veränderte Luftdruckgegensätze oder Verschiebungen in den Temperaturdifferenzen an der Meeresoberfläche verschiedener Regionen der Südhalbkugel sind. Eine mögliche Ursache könnte jenes verstärkt aufsteigende Wasser sein, aber darüber ist noch zu wenig bekannt. Die Antarktis ist nach wie vor ein sehr unzugänglicher Ort, an dem es nicht so einfach ist, längere Messreihen durchzuführen.

Algen sind Grundlage des Ökosystems

Klar dürfte allerdings sein, dass die Abnahme der Meereisbedeckung Folgen für die artenreichen und sehr produktiven Ökosysteme der antarktischen Gewässer haben wird. Zum Beispiel am Meeresboden, wo mehr Licht nicht unbedingt mehr biologische Aktivität bedeutet, so Hauke Flores vom Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung in Bremerhaven. Die dortigen Lebensgemeinschaften sind auf die Algenarten, die im Sommer aus dem tauenden Eis herunterrieseln, spezialisiert. Wie in vielen anderen Ökosystemen auch bringen die klimatischen Veränderungen die aufeinander abgestimmten Rhythmen von Wachstum, Fortpflanzung und Sterben durcheinander, erklärt Flores, dessen Arbeitsschwerpunkt Meereis-Ökosysteme sind und der zum Thema Untereis-Lebensgemeinschaften in der Antarktis promoviert hat.

Betroffen von den Veränderungen wird auch der Krill sein. Die in riesigen Schwärmen vorkommenden kleinen Krebstiere sind nicht nur wichtige Nahrungsquelle für Pinguine und einige Walarten, sondern spielen auch für die Fischerei eine Rolle. Studien aus den letzten beiden Jahrzehnten haben gezeigt, dass dort, wo das Meereis regional zurückgeht, auch die Menge an Krill abnimmt. Dieser ernährt sich nämlich vor allem von Algen, die auf den Unterseiten des Eises leben und die er mit seinen Vorderbeinen abkratzt. Insbesondere der Krillnachwuchs ist auf diese Eisalgen angewiesen, zu denen er im Winter kaum Nahrungsalternativen hat. Da er aber anders als die erwachsenen Tiere keine Fettreserven aufbauen kann, muss er ständig Algen vom Eis abweiden, damit er nicht verhungert. Ob der jüngste Eisrückgang schon Auswirkungen auf den Krill zeigt, lässt sich jedoch laut Flores noch nicht sagen.

Folgen für Pinguine und Robben

Auch die auf dem Eis lebenden Tiere bekommen Schwierigkeiten, wenn das
Meereis sich im Sommer schneller und weiter zurückzieht. Im vergangenen
Jahr sorgte ein Massensterben von Jungtieren in einigen großen Pinguinkolonien für Schlagzeilen. Der Pinguinnachwuchs musste wegen schwindender Eisflächen ins Wasser, noch bevor er ein wasserdichtes Daunenkleid ausgebildet hatte. Entsprechend erfroren die meisten Jungvögel. Derartige Ereignisse werden mit den Veränderungen rund um den Eiskontinent wahrscheinlicher, so Flores. Ein besonderes Problem hat die Krabbenfresserrobbe, die das Meereis benötigt, um ihren Nachwuchs zur Welt zu bringen. Ist das Eis zu früh weg, haben die jungen Robben kaum eine Überlebenschance. Wichtige Details der Ursachen und Auswirkungen des deutlich verringerten Meereises mögen also noch unklar sein. Der schnelle Moduswechsel macht allerdings deutlich, dass Veränderungen im Klimasystem oft abrupt abgehen und manchmal das Ausmaß der Auswirkungen erst völlig klar wird, wenn sie bereits angestoßen sind. Und diese können, wie etwa im Falle der Umwälzzirkulation, durchaus irreversibel sein, auch wenn der Auslöser, die Veränderung im Meereis, es nicht war. Oder mit anderen Worten: Der Klimawandel hat noch manch böse Überraschung für uns auf Lager.

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