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Herzen auf dem Tisch
Diesen Mittwoch gibt es in Berlin eine Benefizlesung deutsch-jüdischer Autoren für die israelisch-palästinensische Friedensinitiative »Parents Circle«
Wie kann man angesichts der Gewaltspirale in Nahost jenseits von Verhärtung und Vergeltung noch miteinander sprechen? Den Dialog hat sich die Vereinigung »Parents Circle« auf die Fahnen geschrieben: In verschiedenen Formaten und vor verschiedenen Auditorien treffen sich seit drei Jahrzehnten israelische und palästinensische Familienangehörige, die im andauernden Konflikt ein Familienmitglied verloren haben. So betreibt der Verein Vermittlungs- und Aufklärungsarbeit, zeigt den Schrecken des Geschehens und setzt sich für ein Ende des Blutvergießens ein.
Den »Parents Circle« unterstützen möchten auch die Autoren Alexander Estis und Slata Roschal, die am heutigen Mittwoch zur Benefizlesung »Eine unwahrscheinliche Existenz« ans Deutsche Theater Berlin einladen. Hier kommen junge Stimmen deutsch-jüdischer Literatur zu Wort: Alexander Estis, Iryna Fingerova, Dmitrij Kapitelman, Slata Roschal und Dana von Suffrin (gelesen von Schauspielerin Daria von Loewenich) gehen in ihren Texten in je individueller Art auf die Ereignisse in Nahost, aschkenasische Familiengeschichten oder Aspekte jüdischer Lebensrealität in Deutschland ein. Musikalisch umrahmt wird der Abend vom Akkordeonisten Michael Saposchnikow.
Dabei handelt es sich bereits um die fünfte Veranstaltung innerhalb einer deutschlandweiten Veranstaltungsreihe, die Alexander Estis und Slata Roschal initiiert haben. Die Münchner Autorin, die mit ihrem lyrischen Roman »153 Formen des Nichtseins« zuletzt für den Deutschen Buchpreis nominiert war, erläutert: »Es geht uns bei dieser Lesung um eine aktive Haltung, einen Ausdruck von Solidarität.« Antisemitische Aussagen und die hässlichsten Aufrufe gegen Israel seien, selbst unter Intellektuellen, unter Autor*innen wie Verleger*innen, wieder salonfähig geworden. Autor, nd-Kolumnist und Kurt-Tucholsky-Preisträger Alexander Estis, dessen 2022 erschienenes Buch »Fluchten« sich unter anderem mit Migrationsgeschichten befasst, verweist daneben auf das Schweigen des Kulturbetriebs nach dem 7. Oktober, auf die darauffolgenden Relativierungen, vermeintlichen Kontextualisierungen und gefährlichen Polarisierungen.
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In ihren Texten geht es den Autor*innen jedoch nicht nur um die Auseinandersetzung mit Antisemitismus, sondern auch um das Miteinander von arabischen und jüdischen Menschen, von Deutschen und Juden, um jüdisch-ukrainische Identität mit der doppelten Betroffenheit von Krieg, um das gesamtgesellschaftliche deutsche oder auch das ganz persönliche Verhältnis zu Israel.
Die Texte der Autor*innen widersetzen sich zu simplen, polarisierenden Parteinahmen; über die Literatur wird eine Einfühlung jenseits der politischen Parole möglich. Auch die Mitglieder des »Parents Circle« wollen, dass die Grautöne im Nahost-Konflikt wahrgenommen werden, es geht ihnen um die diversen Perspektiven beider Seiten, um das gegenseitige Zuhören als einen ersten Schritt zur Versöhnung.
Eine Hauptaufgabe dieser Organisation besteht darin, sogenannte Dialogue Meetings zu veranstalten – angeleitete Gespräche zwischen Palästinensern und Israelis. An Schulen und anderen Institutionen teilen Angehörige hierbei ihre persönlichen Geschichten von Verlust und Trauer. Die Teilnehmenden werden so erstmals mit der Trauer der anderen Seite konfrontiert.
Über 300 000 Menschen haben an den Workshops des »Parents Circle« seit seiner Gründung 1998 teilgenommen. »Wie können Sie gleichgültig bleiben, wenn jemand sein Herz auf den Tisch legt?«, fragt eine Teilnehmerin nach einem solchen Treffen.
Auch am Deutschen Theater werden am Mittwoch die Herzen auf den Tisch gelegt.
»Eine unwahrscheinliche Existenz. Stimmen deutsch-jüdischer Literatur nach dem 7. Oktober«, 27.3., 20 Uhr, DT, Berlin
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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