90er Jahre in Berlin: Hausbesetzung versus Sony Center

Dafür, wie die deutsche Hauptstadt heute aussieht, waren die 90er Jahre entscheidend wie keine andere Zeit

Verschenktes Potenzial? Brache des Potsdamer Platzes im Jahr 1991
Verschenktes Potenzial? Brache des Potsdamer Platzes im Jahr 1991

»Das Alte war weg, aber das Neue noch nicht so richtig angekommen«, fasst Niko Rollmann vom Robert-Tillmanns-Haus das Berlin der 90er Jahre zusammen. Weitläufige, unbebaute Brachen im Zentrum der Stadt, zerfallene Häuser im Osten und ein Westen, der nur bedingt Lust hatte, sich mit den neu hinzugekommenen Stadtteilen zu beschäftigen: All das beschreibt der Historiker, der in den 90ern selbst als Student nach Berlin zog, in seinem Seminar am Mittwoch.

In den 90er Jahren sei es noch etwas Besonderes gewesen, durch das Brandenburger Tor zu laufen. »Mitte war damals noch menschenleer«, sagt Rollmann. »Das konnte etwas Angsteinflößendes haben.« In den Diskussionen darüber, womit die freistehenden Flächen bebaut werden sollten, habe sich das angedeutet, was Berlin heute unter dem Stichwort Gentrifizierung beschäftigt. Schon damals allgegenwärtig sei hingegen der akute Wohnungsmangel gewesen. Wer in der Stadt ein neues Leben beginnen will, muss sich ihm stellen.

Dabei herrscht in dieser Zeit gerade im Osten der Stadt weitestgehend Leerstand – heruntergekommener, aber eben doch wichtiger Wohnraum. Die Zahl der Hausbesetzungen nimmt zu. »Schon in der DDR haben Hausbesetzer*innen eine Rolle gespielt«, sagt Rollmann. Nach der Wende sei alles relativ einfach gegangen. Zuerst habe man potenziell leerstehende Häuser beobachtet, um sicherzugehen, dass niemand in ihnen wohnt. »Dann hat man die Tür einfach aufgebrochen und ein neues Schloss eingebaut.« Das Leben als Hausbesetzer*in aber habe Mut und Renitenz verlangt, die nicht alle hätten aufbringen können.

Muckefuck: morgens, ungefiltert, links

nd.Muckefuck ist unser Newsletter für Berlin am Morgen. Wir gehen wach durch die Stadt, sind vor Ort bei Entscheidungen zu Stadtpolitik – aber immer auch bei den Menschen, die diese betreffen. Muckefuck ist eine Kaffeelänge Berlin – ungefiltert und links. Jetzt anmelden und immer wissen, worum gestritten werden muss.

Nichtsdestotrotz machten Hausbesetzungen und die auch daraus entstehenden Kreativräume den Osten laut Rollmann zur »Spielwiese«. Als junger Student aus dem Westen habe man tun und lassen können, was man wollte – bis auf ein, zwei Mal im Jahr, wenn die Eltern aus der alten BRD zu Besuch kamen. »Die dachten sich dann: ›Wo ist unser Sohn denn hier gelandet?‹« Das vom Krieg noch sichtbar gezeichnete Ostberlin habe Besucher*innen aus dem Westen lange abgeschreckt, so der Historiker. »Die Touristifizierung kam eigentlich erst mit den Nullerjahren.«

Im Verlauf der 90er Jahre wird bereits um den repräsentativen Charakter Berlins gestritten, das im August 1990 zur neuen alten Hauptstadt aufsteigt. Die Debatte um die Zukunft des Palasts der Republik sei ihm schier endlos vorgekommen, sagt Rollmann. Während Westberliner*innen zum Großteil das alte Stadtschloss zurückgefordert hätten, sei Ostberliner*innen der Erhalt des DDR-Kulturguts wichtig gewesen: »Ein kleiner Grabenkampf zwischen Ost und West.«

Rund um den Potsdamer Platz werden derweil die Grundsteine für moderne Bauten gelegt. »Damals fand man das Sony Center ganz aufregend. Es war gewissermaßen Avantgarde«, sagt Rollmann. Auf Berliner*innen mache die Gegend heute allerdings einen eher unorganischen Eindruck, auf den Potsdamer Platz verirrten sich hauptsächlich Tourist*innen. Vieles sei mittlerweile schlecht gealtert: »An bestimmten Stellen wirkt es schon ein bisschen angegammelt.«

Zuletzt sind es aber nicht die architektonischen Sünden, deretwegen Rollmann davor warnt, die 90er bei aller Aufbruchstimmung zu verklären: Auch Obdachlosigkeit, Arbeitslosigkeit und Rassismus, etwa gegen Gastarbeiter*innen, gehörten zum Alltag. Das neue Berlin hatte nicht für jede*n Platz.

Das Robert-Tillmanns-Haus wird durch die Bundeszentrale für politische Bildung gefördert und bietet Seminare zu Berliner Politik und Geschichte an.

- Anzeige -

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -