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Sexarbeit in Berlin: »Wir eignen uns unsere Geschichte an«
Schwules Museum eröffnet Ausstellung über Sexarbeit und die Kämpfe vom Mittelalter über die NS-Zeit bis zur Gegenwart
Eine Schlange bildet sich vor der Tür und drinnen drängen sich Menschen dicht an dicht durch die verschiedenen Räume. In einem davon ist ein großes, herzförmiges Bett aufgebaut. Darauf stehen Isaak Rion und Ernestine Pastorello und sprechen abwechslend auf Deutsch und auf Englisch ins Mikrofon, begleitet von einer Gebärdensprachen-Übersetzerin und dem Applaus des Publikums. Am Dienstagabend eröffneten die beiden Sexarbeiter*innen ihre Ausstellung »With legs wide open (mit weit geöffneten Beinen) – ein Hurenritt durch die Geschichte« im Schwulen Museum in Berlin. Hunderte sind zur Vernissage gekommen.
»Die Ausstellung kommt genau zum richtigen Zeitpunkt, an dem Politiker*innen mal wieder Gesetze machen wollen, ohne mit uns zu sprechen«, sagt Rion. Er bezieht sich dabei auf die laufende Evaluierung des Prostitutionsschutzgesetzes auf Bundesebene. Es sei sehr wichtig, dass die Ausstellung über Sexarbeit von Sexarbeiter*innen selbst erarbeitet worden sei. Denn allzu oft werde nur über sie gesprochen. »Es ist eine Hurengeschichte von Huren. Also von uns, nicht über uns. Wir eignen uns unsere Geschichte an.«
Das ist keine einfache Aufgabe, wie die beiden Mitkurator*innen schildern. Gerade die Arbeit mit Archivmaterial zum Thema Sexarbeit erfordere einen kritischen Umgang, denn die behördlichen Unterlagen zeichnen vor allem die verschiedenen historischen Kontrollinstrumente nach. Aufzeichnungen von Sexarbeiter*innen selbst sind rar. »Die Polizeiakten dokumentieren nur die Geschichte unserer Verfolgung«, sagt Rion. Diese aufzuarbeiten und gleichzeitig die Geschichte(n) von Sexarbeiter*innen selbstbestimmt, widerständig, humorvoll und mit utopischem Blick darzustellen, ist die Herausforderung, derer sich die Ausstellung annimmt.
So ist die Ausstellung selbst wie eine Behörde mit verschiedenen Abteilungen aufgebaut. Die »Abteilung für horizontale Arbeit« stellt einen utopischen Arbeitsplatz da, mit einem großen roten herzförmigen Bett in der Mitte, Neon-Schriftzügen an den Wänden und Gegenständen, die diverse Sexarbeiter*innen als Artefakte aus ihrem Arbeitsalltag zusammengetragen haben. »Das hier ist ein lustvoller Raum. Hier könnt ihr euch aufs Bett setzen und ausruhen, euch in Ruhe umschauen und Zines durchblättern«, sagt Rion.
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Inhaltlich entgegengesetzt ist das »Vernichtungsdezernat«. Hier haben die Erschaffenden der Ausstellung Informationen zu Verfolgung, Zwangsarbeit und Ermordung von Sexarbeiter*innen im Nationalsozialismus zusammengetragen. Sexarbeiter*innen wurden von den Nazis als »Asoziale« deportiert und ermordet, aber »gleichzeitig errichteten die Nazis KZ- und Wehrmachtsbordelle«, sagt Rion. In den KZ-Bordellen hätten vor allem Frauen Zwangsarbeit verrichten müssen, die aus Ravensbrück rekrutiert wurden.
»Die Nazis haben ein ganz ähnliches System der Registrierung von Sexarbeiter*innen verwendet, wie wir es jetzt haben. Und dann haben sie die Listen von Sexabeiter*innen genutzt, um sie als ›Asoziale‹ in die KZs zu deportieren«, sagt Ernestine Pastorello zu »nd«. Das sei auch ein Grund, warum sich viele Sexarbeiter*innen derzeit nicht registrieren lassen wollten.
In der Ausstellung werden Geschichten von Sexarbeiter*innen im NS erzählt. Eine davon ist Hedwig Porschütz. Porschütz hatte zusammen mit Otto Weidt Jüd*innen versteckt und Essen für Jüd*innen in Theresienstadt organisiert. 1944 wurde sie inhaftiert. Nach dem Ende der NS-Herrschaft lebte sie in Armut in Schöneberg und beantragte 1958 Entschädigung bei der Berliner Initiative »Unbesungene Helden«. Diese wurde ihr jedoch aufgrund ihrer früheren Tätigkeit als Sexarbeiterin verwehrt.
Die Kurator*innen der Ausstellung kritisieren, dass die Anerkennung von Sexarbeiter*innen als Opfer des NS noch immer fehle. Deshalb haben sie im »Vernichtungsdezernat« eine leere Vitrine aufgebaut, um die Leerstelle darzustellen. »Wir fordern ein Denkmal für die im NS verfolgten Sexarbeiter*innen«, sagt Pastorello.
Andere Abteilungen sind zum Beispiel die »Abstellkammer der Bürokratie«, in der es um die Geschichte der Regulierung von Sexarbeit geht, oder das »Arzneimittelkabinett«, in dem es um »Hexen«, deren Verfolgung im Mittelalter und die Verbindung zum Thema Sexarbeit verbunden.
In der »Stabstelle für die Rückeroberung des öffentlichen Raums« hängt eine große Karte von Berlin an der Wand. Hier sind historische Orte der Sexarbeit in der Hauptstadt markiert. »Berlin hat eine einzigartige Geschichte von Sexarbeit. Beamte sind daran verzweifelt, dass sie Berlin nicht unter Kontrolle bekamen, weil die Stadt so sexuell befreit war«, sagt Pastorello zu »nd«. Berlin sei deshalb auch immer eine Stadt gewesen, die Menschen aus der ganzen Welt angezogen habe. »Die Sexarbeit hier war und ist ausgesprochen divers, was die Herkunft, die Geschlechter und die Angebote der Sexarbeiter*innen betrifft.«
Auch Birga Meyer, Geschäftsführerin des Schwulen Museums, hebt die Bedeutung von Sexarbeit für Geschichte und Gegenwart der Hauptstadt hervor. »Berlin war und ist die internationale Hauptstadt der sexuellen Freiheit und Freizügigkeit. Sexarbeiter*innen sind ein wichtiger Teil davon«, sagt sie zur Eröffnung der Ausstellung. Das Schwule Museum freue sich darüber, mit den Sexarbeiter*innen zusammenzuarbeiten. »Nicht nur wart ihr immer schon hier, ihr wart auch immer schon queer«, sagt Meyer. Die Kämpfe um Freiheit und Selbstbestimmung queerer Menschen und Sexarbeiter*innen seien historisch wie aktuell verbunden, wie auch die Erfahrungen von Stigmatisierung und Ausgrenzung als jene, die von der sexuellen Norm abweichen, geteilt würden. »Wir hoffen, dass die Ausstellung dazu beiträgt, dass Sexarbeiter*innen ihren Platz in queerer Geschichte und die gesellschaftliche Anerkennung, die ihnen zusteht, erhalten.«
Nach der Vernissage der Ausstellung am vergangenen Dienstag ist Ernestine Pastorello glücklich über den großen Andrang. »Ich hätte nicht gedacht, dass so viele Menschen kommen werden«, sagt sie zu »nd«. Besonders wichtig sei ihr, dass die Sexarbeiter*innen-Gemeinschaft sich wohlgefühlt habe. »Wenn man in der Gegenwart ständig ausgegrenzt wird, dann ist es wichtig, über die eigene Geschichte zu lernen. Sexarbeit hat seit Jahrhunderten eine konstante und lebendige Subkultur in Berlin.« Das gebe der Gemeinschaft ein Bewusstsein dafür, dass sie ein Recht habe zu existieren, und ein Recht, gut behandelt zu werden. Pastorello hofft, dass auch viele andere Menschen die Ausstellung besuchen werden, um über Sexarbeit zu lernen. »Dass wir hier diese Plattform bekommen, trägt vielleicht dazu bei, dass die Leute uns tatsächlich mal zuhören.«
Die Ausstellung »With legs wide open« im Schwulen Museum ist noch bis zum 26. August 2024 in der Lützowstraße 73, 10785 Berlin zu sehen. Eintritt: 9 Euro, ermäßigt 3 Euro.
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