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Kunstzentrum Kindl in Berlin: Wider die Lücke

Im Berliner Kunstzentrum Kindl setzt sich Franz Wanner mit den Kontinuitäten von NS-Zwangsarbeit auseinander

  • Matthias Reichelt
  • Lesedauer: 5 Min.
Diese Schutzbrille gehörte einem unbekannten Häftling aus dem KZ Sachsenhausen.
Diese Schutzbrille gehörte einem unbekannten Häftling aus dem KZ Sachsenhausen.

Lieber nur Kunst und Ästhetik zu genießen, statt sich auch mit störenden Fragen von Verdrängung und weißen Flecken in den »dunklen Zeiten« der Geschichte von Kunstinstitutionen, Privatsammlungen und -museen zu befassen, ist eine verbreitete Haltung. Franz Josef Degenhardt verarbeitete diese in einer Zeile seines Liedes »Väterchen Franz« (1966): »Hör auf mit der Geschichte – Kunst ist doch Genuss!«

Genau das will der unter dem Pseudonym Franz Wanner arbeitende und 1975 in Bad Tölz geborene Künstler dem Publikum im Berliner Kindl nicht gönnen. Für Wanner gebe es kein kollektives nationales Trauma, »sondern einen erlernten Bürger*innenpragmatismus in einem Staat, der sich aus den Trümmern eines selbst verursachten Kriegs als aller Ideologien entledigtes Wunderkind des Wirtschaftsliberalismus neu erfand«, wie Stephanie Weber in einem früheren Katalog es kompakt auf den Punkt bringt.

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Wanners Kunst basiert auf minutiösen Recherchen, die er mit Bildern, Videos und Texten zu Erzählungen formt. Dem Aberglauben von der »unschuldigen« Wissenschaft ist Wanner in der Fünf-Kanal-Video-Installation »DUAL-USE« (2016) entgegengetreten, die die oft camouflierte Verstrickung von ziviler und militärischer Forschung nachweist. In einem Film- und Theaterprojekt hat er sich mit den geheimdienstlichen Außenstellen des Bundesnachrichtendienstes befasst, der aus der Organisation Gehlen hervorgegangen war. Reinhard Gehlen, der zuvor die »Abteilung Fremde Heere Ost« in der Wehrmacht geleitet hatte, konnte seine NS-Karriere ohne Unterbrechung in der BRD fortsetzen – im Kampf gegen den Kommunismus war er offenbar unverzichtbar.

Die Beschäftigung und das Enttarnen solcher unsichtbaren Verbindungslinien und Kontinuitäten zieht sich wie ein roter Faden durch das Werk Wanners, der nun im Kindl den Fokus nur ein wenig verschiebt und andere Kontinuitäten in den Blick nimmt, nämlich die von Firmen, die im Nationalsozialismus Zwangsarbeiter beschäftigten. Der Titel der von Kathrin Becker kuratierten Ausstellung, »Mind the Memory Gap« (Beachte die Erinnerungslücke), klingt ganz ähnlich wie der Warnhinweis der Berliner Verkehrsbetriebe, auf die Lücke zwischen U-Bahn und Bahnsteigkante zu achten. Den weißen Raum der Gedächtnislücke zu füllen und die Spuren der Vergangenheit in der Gegenwart offenzulegen, spielt hier ebenso eine Rolle.

Gleich im ersten Raum ist in der stringent konzipierten Ausstellung das Foto einer Plexiglas-Schutzbrille zu sehen, die einem bislang unbekannten Häftling des KZ Sachsenhausen gehörte und bei Grabungen 2006 dort gefunden wurde. Die Brille hat der Zwangsarbeiter bei der Firma Röhm & Haas anscheinend für sich selber hergestellt. Röhm & Haas, die auch eine US-amerikanische Niederlassung besaßen, hatten 1931 das Patent für Plexiglas angemeldet. Die Firma setzte im NS-Deutschland Zwangsarbeiter in der Herstellung von Plexiglas ein, das ab 1936 vollständig der Kriegsproduktion vorbehalten war. Die Zwangsarbeiter stellten mit dem Werkstoff Fenster für die Kanzel der Kampfflugzeuge aus den Heinkel-Werken her, die in der heutigen Firma Airbus aufgegangen sind.

Solche Verknüpfungen ziehen sich durch die Ausstellung von Franz Wanner und evozieren die Frage, inwiefern auch andere heute existierende Firmen direkt oder indirekt an Zwangsarbeit beteiligt waren und davon profitierten. Und diese Frage ist mehr als berechtigt, da viele Firmen relativ unbeschadet die Niederlage des deutschen Faschismus überstanden hatten und wie Phönix aus der Asche in neuem Gewande nach der »Stunde null« wieder vor Ort waren.

Manche Größenordnungen werden erst klar, wenn sie ins Verhältnis gesetzt werden. Thomas Kuczynski errechnete Ende der 90er Jahre auf Grundlage des Einsatzes von 14 bis 15 Millionen Zwangsarbeiter*innen in Deutschland Entschädigungsansprüche in Höhe von 180 Milliarden DM.

Wanner, zurzeit Stipendiat des Harun-Farocki-Instituts und in München sowie in Zürich lebend, breitet in seiner ersten Berliner Einzelausstellung anhand von Dokumenten, Objekten und Videoprojektionen Ergebnisse jahrelanger Recherchen aus. Die am Eingang gezeigte Plexiglas-Schutzbrille verbindet sich im dritten und letzten Raum mit der Werkreihe »Schatten I-III«, in der von Plexiglashauben für Skulpturen über Teststücke des Werkstoffs aus der Weltraumforschung bis hin zu Schutzschilden der Polizei die verschiedenen Nutzungen des Materials demonstriert werden. Der Kunstkontext bleibt bei Wanner aber immer im Blick. Das Kindl als ehemalige Brauerei, einst im Besitz des Oetker-Konzerns, hatte für das Brauen des Bieres Zwangsarbeiter*innen eingesetzt, die in einem Lager in der Hermannstraße untergebracht waren.

Auch Arno Breker, auf Hitlers Liste der gottbegnadeten Künstler, beschäftigte für die Herstellung seiner megalomanen Skulpturen in Wriezen bis zu 180 Zwangsarbeiter. Der Architekt Hans Freese wiederum baute Brekers Atelier in Dahlem, heute Sitz der Bernhard-Heiliger-Stiftung und des Kunsthauses Dahlem. Freese entwarf aber auch im Auftrag Albert Speers inmitten eines Wohngebiets das »Zwangsarbeiterlager 75/76« in Berlin-Niederschöneweide. Auch die Schweizer Kunstsammlung Bührle findet bei Wanner Erwähnung, da die Tochterfirma Ikaria des Rüstungskonzerns Oerlikon-Bührle in NS-Zeiten in Berlin Zwangsarbeiter ausbeutete.

Wanner als politischen Künstler zu rezipieren, liegt auf der Hand – doch in einem Interview lehnt er gerade diese Kategorisierung ab, da sie die »Erzählung«, die er zu erzeugen versucht, beschränke. Seine Arbeit enthalte auch fiktionale Elemente. Im Berliner Kunstzentrum Kindl wird das etwa in einem Video deutlich, in dem Wanner imaginiert, wie Firmen ihre NS-Geschichte geschäftsverträglich und gleichzeitig werbewirksam verarbeiten.

»Franz Wanner. Mind the Memory Gap«, bis 14. Juli, Kindl – Zentrum für zeitgenössische Kunst, Berlin.

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