»Lavendel«-System wählt Ziele für Israels Angriffe in Gaza aus

Soldaten übernehmen Vorschläge mit hohen »Kollateralschäden« oft ohne Prüfung

»Lavendel« berechnet die Gefährlichkeit von Menschen und setzt sie auf eine Tötungsliste.
»Lavendel« berechnet die Gefährlichkeit von Menschen und setzt sie auf eine Tötungsliste.

Der in Jerusalem lebende Filmemacher und Autor Yuval Abraham hat eine Recherche zu einem automatischen System für die Zielauswahl im Gaza-Krieg veröffentlicht. Die Technik basiert auf Künstlicher Intelligenz und ist beim israelischen Militär seit dem Gaza-Krieg von 2021 im Einsatz. Angeregt wurde dieses »Lavendel« genannte System offenbar vom derzeitigen Kommandeur der israelischen Eliteeinheit 8200, der hierzu auch ein Buch veröffentlicht hatte. Darin geht es um eine Maschine, die in kürzester Zeit riesige Datenmengen verarbeiten kann, um Ziele für militärische Angriffe zu ermitteln. So könnten menschliche Entscheider in Kriegszeiten unterstützt werden.

In einem früheren Bericht hatte Abraham bereits ein KI-System mit dem Namen »Evangelium« (im Original »Gospel«) öffentlich gemacht. Es markiert Gebäude und Infrastrukturen, die dann angegriffen werden. »Lavendel« markiert Menschen und setzt sie auf eine Tötungsliste.

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Abraham stützt seine im Internetmagazin +972 und der Zeitung »Local Call« veröffentlichte Recherche auf Aussagen von sechs Geheimdienstoffizieren. Einer von ihnen soll höherrangig sein. Alle hätten während des derzeitigen Gaza-Kriegs »aus erster Hand« mit der Technik zu tun gehabt.

Den Quellen zufolge hätten sich die Soldaten in den ersten Wochen des Krieges fast vollständig auf »Lavendel« verlassen und die Ergebnisse behandelt, »als seien sie eine menschliche Entscheidung«. Vorgesetzte sollen diese Routine zwei Wochen nach Kriegsbeginn ausdrücklich erlaubt haben, ohne dass die Soldaten die geheimdienstlichen Rohdaten überprüfen, auf denen die Berechnungen beruhten.

Offizieller Zweck von »Lavendel« ist die Markierung von Mitgliedern der militärischen Flügel der Hamas und des Palästinensischen Islamischen Dschihad (PIJ) mit hohen und niedrigen Rängen. »Fast jede einzelne Person im Gazastreifen« soll laut dem Bericht von »Lavendel« auf einer Skala von 1 bis 100 bewertet worden sein, dabei würden etwa Kommunikationsdaten von Mobiltelefonen, Kontakte, Accounts in sozialen Medien oder Fotos genutzt. Die Maschine soll dazu mit Daten bekannter Hamas-Aktivisten trainiert worden sein. Rund 37 000 Palästinenser seien von der Software anschließend als mutmaßliche Kämpfer erkannt worden.

Jedoch ist auch dem Militär bekannt, dass das System in etwa zehn Prozent der Fälle daneben liegt, schreibt Abraham in seiner Recherche. Oft würden Personen markiert, die nur eine lockere oder gar keine Verbindung zu militanten Gruppen haben.

Fehler treten auf, wenn »Lavendel« Prognosen auf mutmaßliche Kommunikationsmuster von Kämpfern stützt. Diese ähnelten aber Mitarbeitern der Polizei und des Zivilschutzes, die deshalb laut einer der Quellen ebenfalls ins Visier gerieten. Auch Verwandte oder Einwohner, die zufällig einen Namen und Spitznamen hatten, der mit dem eines Funktionsträgers identisch war, landeten auf diese Weise auf den Listen. Getötet würden zudem Angehörige oder sonstige Personen, die ein Telefon benutzten, das einem Hamas-Aktivisten gehörte.

Israels Armee greift die Personenziele häufig an, wenn sie nachts daheim sind. Dabei helfen zusätzliche Systeme wie »Wo ist Papa?«, über das Abraham ebenfalls erstmals berichtet. Das Ortungsprogramm stellt die markierte Person demnach unter ständige Überwachung und gibt Bescheid, wenn diese nach Hause kommt.

Laut den sechs Geheimdienstquellen würden von der KI markierte niedrigrangige Militante oft mit »dummen«, also ungelenkten Bomben getötet, was zu hohen Opferzahlen führe, während die »intelligenten« Präzisionsbomben für andere Gelegenheiten oder einen womöglich drohenden Libanon-Krieg aufgehoben würden.

Diese »Kollateralschäden« werden nicht nur hingenommen, sondern im Rahmen von »Lavendel« sogar noch erhöht. In den ersten Wochen des Krieges habe die Armee entschieden, dass für jeden von »Lavendel« gekennzeichneten Hamas-Aktivisten bis zu 20 Zivilisten getötet werden durften. Laut einem Geheimdienstler sei in einem ihm bekannten Fall der Tod von mehr als 100 Zivilisten bei der Ermordung eines einzigen Kommandeurs genehmigt worden. »Bei dieser Berechnung konnten es auch 20 Kinder für einen niedrigrangigen Offizier sein«, zitiert der Bericht eine andere Quelle.

»Das Ergebnis ist, wie die Quellen bezeugen, dass Tausende von Palästinensern – die meisten von ihnen Frauen und Kinder oder Menschen, die nicht an den Kämpfen beteiligt waren – aufgrund der Entscheidungen des KI-Programms durch israelische Luftangriffe ausgelöscht wurden, insbesondere in den ersten Wochen des Krieges«, heißt es in der Recherche.

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