Frank Willmann im wilden Fußball-Osten: Darauf ein Verliererbier!

Literatur nicht aus dem Elfenbeinturm, sondern vom Schienbein-Schlachtfeld: »Streifzüge durch den wilden Fußball-Osten«

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 5 Min.
Willmanns Zuneigung gehört allem Wüsten, Weichen, Wetterfesten: Jenaer Fans nach einem Relegationsspiel.
Willmanns Zuneigung gehört allem Wüsten, Weichen, Wetterfesten: Jenaer Fans nach einem Relegationsspiel.

Gern verbindet der Mensch das Datum seiner Geburt mit der leichtfertigen Behauptung, er sei zur Welt gekommen. Als dauere dies nicht lebenslang. Als stehe nicht fortwährend die Frage, wie man zur Welt und gleichzeitig zu sich selbst kommt. Zur Welt zu kommen heißt, möglichst bald zur Vernunft kommen zu müssen – die dir unerbittlich dein traurigstes Talent auf Erden klarmacht: zu kurz zu kommen.

Damit sind wir schon im Osten – des Landes, der Welt. Und landen bei der ewigen Fortpflanzung des immer Gleichen: Das Leben dreht sich im Kreis, speziell im Teufelskreis. Existenz ist Kreisklasse, aber immerhin: Der Ball ist überall rund – und besonders nötig ist er dort, wo äußerst wenig rund läuft.

»Streifzüge durch den wilden Fußball-Osten« heißt das Buch von Frank Willmann. Es sammelt an die 80 Kolumnen aus etwa 20 Jahren. Willmann ist mir der liebste, weil saftigste Feuilletonist des »nd«; seine Randspalten leiden nicht daran, Kultur-Betrachtung mit Leitartikel-Belehrung tränken zu müssen. Auf Fußballplätze geht er, wie ein Erwachsener das einstige Kinderzimmer betritt: mit Herzklopfen und der wehmutsvollen Entdeckung, dass in den aufgeräumten Ecken doch noch Traumreste liegen.

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Willmann, in Weimar geboren, 1984 in den Westen ausgereist, blieb kleben am Osten, auch wenn der eine Zeitlang DDR hieß, ein »mausgraues Nichts«. Zu dessen Wirklichkeit gehörte beim Fußball, dass »Auswärtsfans Freiwild waren«; Hassgesänge, angestimmt von »rauen, rotnasigen Arbeitern«. Willmanns Jugendfazit in Thüringen: »Lenin und Marx wollte niemand … die russischen Besatzer waren unbeliebt«.

Rau und rücksichtslos schreibt er, alle Romantik hat Härte. Aber noch im Ruppigsten, noch im Räudigsten dieses fußballerischen, sozialen Schmutz-und Schönheit-Panoramas bestätigt sich ein Satz des Schriftstellers Robert Musil: »Die Hälfte der Weltgeschichte ist eine Liebesgeschichte.« Unbestritten, Willmann liebt. »Kaffeesäxinnen, rotwangige Thüringer Bratwurstfresser, Fischermanns Frau und Herrn Fischkoppen in MeckPommm …« Seine Zuneigung gehört allem Wüsten, Weichen, Wetterfesten. Literatur nicht aus dem Elfenbeinturm, sondern vom Schienbein-Schlachtfeld. Als Signal gegen jedwede Nachlässigkeit beim Blick auf Existenzkräfte. So einen Satz muss man erst mal schreiben: »Das Spannende am Fußball vollzieht sich vor dem Horizont des Todes.« Spiel ist Tod: Hinter dem, was uns erhebt, kommt nichts mehr, was sich lohnt. Das Leben dauert 90 Minuten. Manche lügen sich selber an und sagen, es seien Jahre.

Über den Derbyzauber in Belgrad wird geschrieben, über Nietzsche-Lektüre in der Halbzeitpause, über »Buschners Buben« beim DDR-Olympiasieg in Montreal, über die schmerzende Patellasehne, protokolliert werden die Erlebnisse eines BFC-Fans in der DDR: ein kräftiges »Schal ruppen« bei den Gegenfans, danach U-Haft und Vollzug in Torgau. In Tirana erlebt Willmann die bezaubernden Klänge einer Rammstein-Coverband. Ein Momente-Mosaik: clownesk, makaber, zerrend sehnsuchtsvoll. Novi Sad und Mostar. Łódź und Wuhlheide.

Der Autor mag das wahre Fußballwetter »fiesen Niesel, feuchten Schnee«, er nennt sich einen »konservativen Anarchisten«, kennt »alle Busbahnhöfe, schmutzigen Bahnsteige«, mag die Groundhopper des Sports; Typen sind das, die verlieben sich doch tatsächlich in »einbeinige Damen in Bangkok«.

Grandios die Charakterisierung der vierten Liga, sie ist »der ganze liebenswürdige Grind, der beim großen Stechen und Hauen um einen Profivertrag auf der Strecke blieb«; sekundenpräzis porträtiert Willmann »seine« Jena-Elf: »der fußkranke Frank, der dickdoofe Donald, der magere Marc, der centzählende Ken«. Das genau ist, was Christoph Biermann, Chefreporter des Magazins »11 Freunde«, im Vorwort schreibt: »Osten als Seelenlandschaft«.

Das Buch ist Arbeit gegen den anteilnahmelosen Raum, im Ton geradezu Bukowski-like. Weltraum der Provinzen: Aus nächster Umgebung schweben zu weit Entlegenem, etwa auf dem Balkan, sehr haltbare Fäden der Beteiligung und des grenzüberschreitenden Interesses: Wie soll man leben? Schon zu Beginn gesteht Willmann seine Leidenschaft für russische Dichter, und ich finde, seine Texte lächeln gleichsam mitleidig über Familien, in denen nicht über Fußball debattiert wird – es muss dort Langeweile herrschen wie auf dem Gut von Tschechows Onkel Wanja. Nur raus also! Zum nächsten Spiel!

Zwar betet Willmann, wenn es um den Sieg »seiner« Mannschaft geht, alles an, was »im Götzenkosmos zwischen Allah und dem Weihnachtsmann Rang und Namen hat«, aber, typisch Ost-Herz: Die Tränen unglücklich Besiegter erscheinen ihm menschlicher als jedes Gewinner-Lächeln. Wer lädiert unterliegt, wächst doch über den hinaus, der in geleckter Art den kalten Mechanismen der Wachstumsgesellschaft entspricht. Verlierer (siehe den europaweiten Osten!) sind auch im Fußball ehrenwerter als die weltweit verschacherten Gladiatoren ohne Aura.

Willmanns Streifzüge besitzen ein Gefühl für große Augenblicke, in denen etwas ins Stocken kommt. Stolze Augenblicke, bittere und böse; blöde und bemitleidenswerte auch. Aber vor allem Erzählungen von der Kraft, mit erhobenem Kopf zu scheitern. Immer weiter zu scheitern. Freilich – wie es bei Samuel Beckett heißt – mit einer lebenserhaltenden Steigerung: das nächste Mal besser zu scheitern. Denn: Am besten schmeckt ein »Verliererbier«.

Frank Willmann: Streifzüge durch den wilden Fußball-Osten. Ventil Verlag Mainz. 293 S., brosch., 20 €.
Buchpremiere mit dem Autor am 11. April um 19 Uhr im Fanprojekt Berlin, Cantianstraße 25.

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